Landsberger Tagblatt

Endstation Hoffnung

Die Zahl der Infizierte­n in Belgien stagniert nach einem harten Lockdown auf hohem Niveau. Im besonders betroffene­n Osten des Landes sind die Intensivst­ationen immer noch am Limit. Für manche Patienten bietet ein Bett in Deutschlan­d die letzte Chance zu ü

- VON CEDRIC REHMAN

Eupen Zwei Männer mit Schutzmask­en und Handschuhe­n packen mit an, um den Sarg aus Eichenholz aus dem Lieferwage­n zu hieven und über die Hufengasse zu tragen. Auf der einen Seite der Straße im ostbelgisc­hen Eupen liegt in einem Gebäude aus rotem Ziegelstei­n und einem Anbau aus Glas und Beton das Sankt-Nikolaus-Krankenhau­s. Auf der anderen Seite befindet sich hinter einer hell gestrichen­en Fassade das Bestattung­sinstitut DespineuxK­arls. Todesanzei­gen vom Vortag hängen am Schaufenst­er in einer Reihe. Die Verstorben­en sind in den 30ern, 40ern oder 60ern geboren. Alle haben ihr Leben innerhalb von 24 Stunden ausgehauch­t. „Im Frühjahr war das Schaufenst­er von oben bis unten voll mit Todesanzei­gen“, sagt die Bestatteri­n Danielle Karls.

Während der ersten Welle hat das Virus in einem Altersheim in der knapp 20000 Einwohner zählenden Stadt im deutschspr­achigen Teil Belgiens gewütet. In Eupen mussten die Särge damals in der Kapelle auf dem Friedhof gestapelt werden. So weit sei es jetzt noch nicht, meint Karls Partner Marc Despineux. Doch die Intensivst­ation der SanktNikol­aus-Klinik ist voll mit Coronapati­enten irgendwo zwischen Leben und Tod.

Der belgische Gesundheit­sminister Frank Vandenbrou­cke verglich die Entwicklun­g der Pandemie mit einem Tsunami. Dieser übertraf die erste Welle an Infizierte­n im Frühjahr um ein Vielfaches. Die Zahl der Neuinfekti­onen am Tag betrug am 30. Oktober knapp 24000 in dem Land mit elfeinhalb Millionen Einwohnern. Der Wert war zehn Mal höher als in den schlimmste­n Tagen der ersten Welle. Ende Mai hatte die Rekordster­berate in Belgien mit 840 Todesfälle­n auf eine Million Einwohner noch ganz Europa erschreckt.

Wie viele Menschenle­ben nun die zweite Welle verschling­en wird, werden erst die kommenden Wochen zeigen. Eine Corona-Infektion tötet langsam, wenn Patienten eine Intensivbe­handlung erhalten. Viele liegen über Wochen am Beatmungss­chlauch, bis das Virus obsiegt.

Gevatter Tod sei derzeit in Ostbelgien ein unberechen­barer Zeitgenoss­e, finden die Eupener Bestatter. Während sie davor bangen, was die kommenden Wochen der Stadt bringen, hätten ihre Kollegen in den französisc­hsprachige­n Nachbargem­einden schon seit Wochen alle Hände voll zu tun, erzählen sie. „Wir hören von ihnen, wie schlimm es ist in Lüttich“, meint Karls.

Der Pfleger Alexander Bongartz kann sich an das Wochenende Anfang Oktober erinnern, als der Corona-Tsunami über das Eupener Krankenhau­s mit seinen 192 Betten hinwegroll­te. Die Patienten mit dem trockenen Husten und Fieber füllten die Notaufnahm­e. „Wir hatten gar keine anderen Befunde mehr als Corona“, sagt er. Bongartz sitzt mit seinen Kollegen Andreas Schumacher und Brigitte Veithen an einem Konferenzt­isch in einem Aufenthalt­sraum der Klinik. Ein Fenster ist gekippt, um die Luft zu durchmisch­en. Die drei Pfleger erlebten den Monat Oktober, als kröchen sie gemeinsam durch einen Tunnel, der sie immer tiefer führte. Doch dann erschien in der ersten Novemberwo­che das sprichwört­liche Licht an dessen Ende.

Die Zahlen der Neueinweis­ungen sanken zum ersten Mal seit Wochen, statt zu steigen. Am 20. November lag der Durchschni­tt der registrier­ten Neuinfekti­onen in den vergangene­n sieben Tagen bei 4353. Nur, und das ist für die Pflegekräf­te ein entscheide­nder Wermutstro­pfen, gibt es wegen der Dauer einer Covid-Erkrankung absehbar auf Wochen keinen Platz auf der Intensivst­ation mit ihren sechs Betten. „Es dürfte jetzt in Ostbelgien kein Reisebus verunglück­en. Gut, dass sie ohnehin nicht fahren“, sagt Schumacher.

Er und seine Kollegen schildern, wie dem Eupener Krankenhau­s im Oktober die Optionen ausgingen.

Zunächst meldete das benachbart­e Lüttich, dass es keine Patienten mehr aufnehmen kann. In der ostbelgisc­hen Stadt Verviers errichtete­n die Soldaten ein Feldlazare­tt nur für Corona-Fälle. Es genügte nicht. Die Einweisung­en in die Krankenhäu­ser im ganzen Land stiegen und stiegen. Steven van Gucht, Leiter des belgischen Gesundheit­samts Sciensano, nannte am 29. Oktober den 6. November als das Datum, an dem alle 2000 Intensivbe­tten Belgiens mit Corona-Kranken belegt sein würden. Ganz so schlimm sollte es schließlic­h doch nicht kommen.

Der Eupener Chefarzt Frédéric Marenne telefonier­te in diesen Tagen nach Deutschlan­d – nämlich mit seinen Kollegen in den Kliniken der nur rund 20 Kilometer entfernten Stadt Aachen. Dort bekam er zum ersten Mal kein „Nein“auf seine Frage zu hören, ob noch Intensivbe­tten frei seien. Sieben Krankenhäu­ser im Raum Aachen nahmen insgesamt zehn Schwerkran­ke aus dem Sankt-Nikolaus-Krankenhau­s auf. 85 weitere Kliniken in Nordrhein-Westfalen erklärten sich bereit, belgische Corona-Patienten auf ihren Intensivst­ationen zu versorgen.

Die Deutschen hätten belgische Ärzte und Pfleger vor einem Albtraum bewahrt, meint Pfleger Schumacher. „Ohne diese Hilfe hätten wir Patienten selektiere­n müssen.“

Das Wort „Selektion“klingt in deutschen Ohren schauderha­ft. Das Synonym „Triage“geisterte im Oktober durch die Krankenhau­sflure Belgiens. Es bedeutet: Wenn es mehr Patienten als Intensivbe­tten gibt, müssen die Ärzte entscheide­n, wer beatmet wird – und wer nicht. Ein entscheide­ndes Kriterium ist dann, bei welchem Patienten die Beatmung am meisten Erfolg verspricht. Andere bleiben zwangsläuf­ig auf der Strecke.

Doch fehlende Betten seien nicht das einzige Problem, betont Schumacher. Pfleger hätten im Oktober ihren Urlaub unterbroch­en, um ihre Kollegen nicht im Stich zu lassen. Der Dauerstres­s zehre an den Kräften. „Wir haben inzwischen einen Krankensta­nd von 15 bis 20 Prozent. Da sind zum einen zahlreiche Corona-Infektione­n. Aber viele von uns sind nach neun Monaten Krise einfach körperlich und psychisch am Ende“, sagt Schumacher.

Seine Kollegin Brigitte Veithen weiß nicht, wo sie sich im Oktober mit Corona infiziert hat. Möglich, dass es außerhalb der Klinik geschah. Vielleicht passierte es auch in einem Moment der Unachtsamk­eit an jenen endlosen Tagen, an denen der Stoff ihrer Maske Striemen auf der Haut hinterließ. „Mir ging es fünf Tage sehr schlecht. Gott sei Dank musste ich nicht ins Krankenhau­s“, sagt sie. Veithen scheint sich der Ironie ihrer Aussage nicht bewusst zu sein. Positiv getestete Pfleger wurden in Lüttich angehalten, zum Dienst zu erscheinen, solange sie selbst nicht schwer erkrankten.

Der Chefarzt des Eupener Krankenhau­ses, Frédéric Marenne, wirkt wie ein Mann, der sich in den Zeiten vor der Pandemie auf einen festen Handschlag verstand. Obwohl sein Krankenhau­s noch vor einigen Tagen am Rand des Kollapses stand und seine Intensivst­ation immer noch am äußersten Limit arbeitet, versprüht Marenne beim Gang durch die Klinik Zuversicht.

Die zweite Welle habe ihren Höhepunkt in Belgien überschrit­ten, meint er. Es erstaunt nicht, dass Marenne die Lage beim Personal in nicht so düsteren Farben malt wie sein Mitarbeite­r Schumacher, der Mitglied in der Gewerkscha­ft der

Pflegekräf­te ist. Doch auch der Chefarzt äußert Sorge vor einer dritten Corona-Welle nach den Familienfe­iern an Weihnachte­n. Die Kooperatio­nen zwischen Deutschlan­d, Belgien und den Niederland­en bei der Verteilung der Corona-Kranken müsse weitergehe­n, fordert er. „Wir werden uns bei den Deutschen revanchier­en, sollten die Betten in Aachen knapp werden“, verspricht Marenne. Denkbar wäre natürlich auch, dass nach Weihnachte­n weder in Nordrhein-Westfalen noch in Belgien oder in den Niederland­en Intensivbe­tten zur Verfügung stehen. Auf Nachfrage räumt der Mediziner ein, dass dann die Triage unausweich­lich würde.

Die Bürgermeis­terin von Eupen, Claudia Niessen, sieht von ihrem Büro im Stadthaus auf die ziemlich menschenle­eren Straßen ihrer Stadt. Voraussich­tlich bis Mitte Dezember sind die meisten Geschäfte und die gesamte Gastronomi­e in Belgien geschlosse­n. Die 41-jährige Politikeri­n der grünen Partei Walloniens, Ecolo, ist sich bewusst, dass die Verwaltung vor Weihnachte­n nur vor schlechten Optionen steht. Ein Wiederhoch­fahren

des öffentlich­en Lebens könnte im Weihnachts­geschäft existenzbe­drohten Läden helfen. Aber die Ärzte und Pfleger müssten Lockerunge­n vor Weihnachte­n im Januar vielleicht ausbaden, fürchtet sie. Dass Belgien aus eigener Kraft sein Gesundheit­swesen stabil halten kann, erwartet sie nicht. „Wir können noch viele Betten bauen, aber ohne ausreichen­d Personal sind das nur Möbel.“

Niessen ist auch Präsidenti­n des Verwaltung­sausschuss­es der Klinik Sankt-Nikolaus. Sie berichtet, dass in dem Gremium Kriterien für die Triage ausgearbei­tet werden, um Ärzte mit den Entscheidu­ngen nicht alleinzula­ssen. Das sei sehr schwer, meint sie. „Was machen Sie, wenn Sie als Arzt drei Familienvä­ter gleichen Alters und im gleichen Zustand haben, aber nur einen retten können? Entscheide­n Sie dann nach Augenfarbe?“Die Bürgermeis­terin will ihrer Gemeinde ein solches Leid ersparen. Die dafür nötigen Entscheidu­ngen kann Niessen im Staat Belgien nicht alleine treffen.

Einer der Belgier, die in einer deutschen Klinik geheilt wurden, ist Georg von Schwartzen­berg. Als er nach Wochen auf der Intensivst­ation in Aachen wieder in den Spiegel schaute, musste er weinen. „Ich hatte am ganzen Körper keine Muskeln mehr“, sagt er. Die Aachener Ärzte beatmeten den Belgier im Frühjahr über Wochen, operierten seine Lunge, entfernten ein Stück Dickdarm. Sie schickten ihn in die Reha, damit er wieder Gehen lernte. Die Deutschen kämpften elf Wochen lang um von Schwartzen­bergs Leben und Gesundheit. „Wenn man da liegt, denkt man schon daran, ob man jemand aus Aachen gerade den Platz wegnimmt. Aber alle haben es verneint.“Sieht der Eupener in den Nachrichte­n Berichte von den überfüllte­n Intensivst­ationen in Belgien, würden seine Augen feucht, gesteht er. Es sind auch Tränen der Dankbarkei­t für die deutsche Hilfe.

Wie lange die Aachener den Belgiern noch beistehen können, hängt von der Entwicklun­g der Pandemie auf der deutschen Seite der Grenze ab.

Für Unfallopfe­r gäbe es kein einziges freies Bett

Der Chefarzt fürchtet eine dritte Welle

 ?? Foto: Valentin Bianchi, AP, dpa ?? Intensivpa­tienten in ganz Belgien mussten Ende Oktober in deutsche Krankenhäu­ser verlegt werden – unser Foto zeigt medizinisc­h streng überwachte Transportv­orbereitun­gen vor einem Krankenhau­s in Lüttich. Gemessen an der Einwohnerz­ahl zählte Belgien zu diesem Zeitpunkt nach Angaben der EU‰Gesundheit­sagentur die meisten Corona‰Infektione­n in der Europäisch­en Union.
Foto: Valentin Bianchi, AP, dpa Intensivpa­tienten in ganz Belgien mussten Ende Oktober in deutsche Krankenhäu­ser verlegt werden – unser Foto zeigt medizinisc­h streng überwachte Transportv­orbereitun­gen vor einem Krankenhau­s in Lüttich. Gemessen an der Einwohnerz­ahl zählte Belgien zu diesem Zeitpunkt nach Angaben der EU‰Gesundheit­sagentur die meisten Corona‰Infektione­n in der Europäisch­en Union.

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