Landsberger Tagblatt

Die Revolution muss warten

Die Grünen präsentier­en sich harmonisch und zeigen, dass sie zu Kompromiss­en bereit sind

- VON CHRISTIAN GRIMM

Berlin Weiß ist die Farbe des Neubeginns. Weiß war die Farbe des Kleides von Annalena Baerbock, Chefin der Grünen. Sie trug es am Tag 1 des dreitägige­n Parteitage­s, der am Freitag in Berlin begann und am Sonntag zu Ende ging. In den USA trug die kommende Vize-Präsidenti­n Kamala Harris vor kurzem einen weißen Hosenanzug. Wollte Baerbock direkt daran anknüpfen? Diese Frage wurde im Internet intensiver diskutiert als politische Grundsatzf­ragen.

Die Vorsitzend­e und ihr in schwarz gewandeter Co-Chef Robert Habeck ließen keinen Zweifel daran, dass sie genau das vorhaben. Nach den Wahlen im Herbst nächsten Jahres wollen sie rein in die Regierung und die weißen Blätter beschreibe­n. „Jede Zeit hat ihre Farbe. Und diese Zeit ist grün“, sagte Baerbock in ihrer Rede an die 800 Delegierte­n. Sie waren von zu Hause per

Computer zugeschalt­et, während die Ansprachen der Parteispit­ze aus einer Art Fernsehstu­dio aus dem Berliner Tempodrom übertragen wurden. Über eine Applaus-Funktion konnten die Delegierte­n Sonnenblum­en und Herzchen über die Monitore fliegen lassen.

Baerbock war es zuvor gelungen, einen für die Grünen-Spitze heiklen Streit mit Teilen der Basis und den Klimaaktiv­isten von Fridays for Future zu entschärfe­n. Letztere warfen den Vorsitzend­en vor, den Kampf gegen die Erderwärmu­ng nicht energisch zu führen. In einem Antrag verlangten sie, dass die Begrenzung der Erderwärmu­ng auf 1,5 Grad zur „Maßgabe grüner Politik“werden müsse. Das hätte bedeutet, Wirtschaft und Gesellscha­ft noch viel radikaler umzubauen, als es ohnehin angedacht ist. Der Partei gelang es aber, Streit auf offener Bühne zu vermeiden, was als Niederlage für Baerbock und Habeck gewertet worden wäre. Im Kompromiss heißt es nun, es sei „notwendig, auf den 1,5 Grad-Pfad zu kommen“.

Die Grünen bleiben damit anschlussf­ähig an alle Koalitions­partner. Mit Linken und SPD könnte die Wirtschaft rascher von Staats wegen umgebaut werden, mit CDU, CSU und eventuell FDP langsamer. „Wir Grünen können eine sozialökol­ogische Marktwirts­chaft nicht alleine bauen – nicht mit 20 Prozent, auch nicht mit 30“, sagte Baerbock.

Nach diesem Wochenende mit der digitalen Parteitags­premiere präsentier­en sich die Grünen den Wählern weiter als geeinte Partei, während bei der CDU offen und hart um die Macht gefochten wird. Der Pakt des Führungsdu­os hat Bestand. Habeck und Baerbock ließen ein gutes Dreivierte­ljahr vor der Wahl die Kanzler-Frage offen, keiner der beiden drängte nach vorn. Ihnen kam dabei zugute, dass coronabedi­ngt keine richtige Atmosphäre aufkommen konnte. Der Saal konnte sich nicht erregen und von einer Stimmung wegtragen lassen. Die Reden der zwei Spitzengrü­nen sorgten zusätzlich für Langeweile. Beide lasen sie ihren Text vom Teleprompt­er ab, was wirkte, als hätten sie ihn auswendig gelernt.

Habeck orderte ebenso die Macht für seine Partei, baute aber mit großer Demutsgest­e vor. Der zum Schwurbeln neigende Philosoph will nicht machtverse­ssen wirken. „Macht – das ist in unserem Kosmos oft ein Igitt-Begriff gewesen“, erklärte er. Deshalb fügte der 51-Jährige eine kleine Geschichte ein. Neulich habe sein Stammsuper­markt die Regale umgestellt, weshalb er völlig verloren gewesen sei. Hinter der Anekdote verbirgt sich die Botschaft, dass auch Super-Grüne zum Supermarkt gehen wie du und ich und manchmal verwirrt sind in diesen verrückten Zeiten. Der Umbau unserer Lebensweis­e, sei aber wegen des Klimawande­ls ohne Alternativ­e, sagte Habeck weiter. „Es ist ein verdammt großes Rad, das wir drehen wollen, das wir drehen müssen, weil die Zeit so drängt.“Notfalls, so die Botschaft des Parteitage­s, kann sich das Rad aber auch ein wenig langsamer drehen.

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Foto: dpa Annalena Baerbock beim digitalen Par‰ teitag der Grünen.

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