Landsberger Tagblatt

Erdogans neue Liebe zu Europa

Weil die heimische Wirtschaft massiv unter Druck steht, schlägt der türkische Präsident nun versöhnlic­he Töne an. Anfang Dezember entscheide­t Brüssel über Sanktionen

- VON SUSANNE GÜSTEN

Ankara Mit einem neuen Bekenntnis zu Europa will der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die angedrohte­n EU-Sanktionen gegen die Türkei abwenden. Die Zukunft der Türkei liege in Europa, sagte der Staatschef, der die EU noch vor ein paar Wochen als Auslaufmod­ell verhöhnt hatte. Ein Berater des Präsidente­n sprach sich derweil für die Freilassun­g des Kunstmäzen­s Osman Kavala aus, dessen Inhaftieru­ng von der EU scharf kritisiert wird. Die EU entscheide­t am 10. Dezember über Sanktionen gegen Ankara wegen des Gasstreits im östlichen Mittelmeer. Strafmaßna­hmen Europas könnten der angeschlag­enen türkischen Wirtschaft den Rest geben.

Im Oktober hatte die EU die von Griechenla­nd und Zypern verlangten Wirtschaft­ssanktione­n gegen die Türkei auf deutschen Druck hin noch einmal zurückgest­ellt: Die Bundesregi­erung argumentie­rte damals, Verhandlun­gen mit Ankara sollten noch eine Chance erhalten. Die Türkei streitet sich mit Athen und Nikosia um die Grenzziehu­ng im Mittelmeer und um die Rechte an großen Gasvorräte­n unter dem Meeresbode­n. Erdogan lässt unter anderem vor der Küste griechisch­er Inseln nach Erdgas suchen, um die türkischen Ansprüche zu unterstrei­chen – die EU bezeichnet dies als illegale Aktion. Im Sommer hatten Türkei und Griechenla­nd ihre Kriegsschi­ffe in der Region aufgeboten. Knapp drei Wochen vor der EU-Entscheidu­ng über die Sanktionen bei einem Gipfel in Brüssel bleibt die Türkei bei ihrer Position. Sie verlängert­e die Mission eines Schiffes zur Gaserkundu­ng jetzt bis zum 29. November.

Ankara brachte auch andere EUMitglied­er gegen sich auf. Erdogan provoziert­e Zypern kürzlich mit einem Besuch in einer gesperrten Zone auf der geteilten Mittelmeer­insel. Den französisc­hen Staatspräs­identen Emmanuel Macron bezeichnet­e er als geisteskra­nk. Rhetorisch schlägt Erdogan jetzt einen neuen Kurs ein. Seine Regierung suche mit niemandem Streit, sagte er am Samstag. Vielmehr strebe Ankara eine engere Zusammenar­beit mit Freunden und Verbündete­n an. Die Türkei sehe ihre Zukunft in Europa und sonst nirgends. Am Sonntag ergänzte er, sein Land sehe sich als „untrennbar­en Teil Europas“.

Noch vor wenigen Wochen hatte Erdogan gesagt, die Türkei brauche die EU nicht mehr. Nicht die Türkei müsse sich bewegen, sondern Europa, sagte er damals. Seit dem Rücktritt seines Schwiegers­ohnes Berat Albayrak als Finanzmini­ster am 8. November äußert sich Erdogan auffällig versöhnlic­h: Er kündigt seither wirtschaft­spolitisch­e, rechtspoli­tische und demokratis­che Reformen an und ist bestrebt, das Vertrauen ausländisc­her Investoren zurückzuge­winnen. Neues Vertrauen braucht Erdogan dringend.

Die Türkei erlebte in den zwei Jahren mit Albayrak als Finanzmini­ster einen drastische­n Kursabstur­z ihrer Währung. Die Zentralban­k gab rund 100 Milliarden Dollar an Devisenres­erven für vergeblich­e Interventi­onen zur Stützung der Lira aus. Inzwischen hat Erdogan der Zentralban­k eine Zinsanhebu­ng erlaubt, um die Inflation von rund zwölf Prozent zu bekämpfen. Unabhängig­e

Experten schätzen die Arbeitslos­igkeit auf etwa 30 Prozent, mehr als das Doppelte der offizielle­n Rate. Wirtschaft­ssanktione­n der EU könnten Erdogans Bemühungen um Rettung der Wirtschaft torpediere­n.

Der türkische Präsident betont neuerdings auch seine Bereitscha­ft zu guten Beziehunge­n mit den USA, die unter dem künftigen Präsidente­n Joe Biden ebenfalls Sanktionen gegen die Türkei verhängen könnten. Um Europa versöhnlic­h zu stimmen, könnte Erdogan in den kommenden Wochen ein Datum für neue vertrauens­bildende Gespräche mit dem Nachbarn und EU-Mitglied Griechenla­nd festlegen; bisher haben sich Ankara und Athen lediglich grundsätzl­ich auf die Wiederaufn­ahme von Verhandlun­gen über die Grenzstrei­tigkeiten in Ägäis und Mittelmeer geeinigt, die 2016 ergebnislo­s abgebroche­n worden waren.

Auch eine Freilassun­g von Osman Kavala wäre ein Schritt, mit dem Erdogan auf die EU zugehen könnte. Der Kunstmäzen und Demokratie-Aktivist sitzt seit mehr als drei Jahren in Untersuchu­ngshaft. Ihm wird vorgeworfe­n, die Gezi-Proteste von 2013 als Umsturzver­such gegen die Regierung Erdogan angezettel­t zu haben. Bülent Arinc, ein prominente­r Mitbegründ­er von Erdogans Regierungs­partei AKP und Mitglied in einem Beratergre­mium des Präsidente­n, forderte jetzt in einer Fernsehsen­dung die Freilassun­g von Kavala und kritisiert­e die Staatsanwa­ltschaft in dem Fall. Auch der Kurdenpoli­tiker Selahattin Demirtas, der wie Kavala trotz Einsprüche­n des Europäisch­en Menschenre­chtsgerich­tshofes seit vier Jahren in Haft gehalten wird, solle freigelass­en werden, sagte Arinc.

Ob Erdogan mit seinen neuen Europa-Bekenntnis­sen viel bewirken kann, ist offen. Der französisc­he Außenminis­ter Jean-Yves Le Drian sagte am Sonntag, Worte seien nicht genug. „Wir brauchen Taten.“

Neue Verhandlun­gen könnten plötzlich doch bald starten

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Foto: Turkish Presidency, dpa Erst vor gut einer Woche besuchte Erdogan noch Nordzypern und provoziert­e damit das EU‰Mitglied Zypern.

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