Landsberger Tagblatt

Der Dichter mit dem einzigarti­gen Sound

Ein Hörbuch lässt Paul Celan seine Gedichte selbst vortragen. Einige der festgehalt­enen Lesungen sind Schlüsselm­omente der deutschen Literaturg­eschichte nach dem Zweiten Weltkrieg

- VON STEFAN DOSCH

Das Jahr 2020 wartet mit gleich zwei Anlässen auf, Paul Celan in den Vordergrun­d zu rücken. Der eine war die Wiederkehr des 50. Todestages – am 20. April 1970 hatte der deutschspr­achige Dichter Selbstmord in Paris begangen. Der andere Anlass reicht noch ein weiteres Halbjahrhu­ndert zurück, in das Jahr 1920. Am 23. November vor 100 Jahren wurde Paul Antschel, so sein ursprüngli­cher Name, als Sohn einer jüdischen Familie in Czernowitz in der Bukowina geboren – Celan (ein Anagramm von Antschel), der wohl bedeutends­te Lyriker deutscher Sprache in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts.

Schon zu Beginn des laufenden Jahres ist eine ganze Reihe neuer Bücher erschienen zu Leben und Werk des Dichters, der, anders als sein Vater und seine Mutter, dem Holocaust entging, nicht aber dem Trauma des Davongekom­menseins, was sein Schreiben maßgeblich prägte. Jüngst jedoch erst ist eine Celan-Veröffentl­ichung von besonderer Art erschienen. Der Hörverlag hat unter dem Titel „Todesfuge“eine Auswahl von 90 Gedichten zusammenge­stellt, die Paul Celan selbst vorgetrage­n hat – fasziniere­nde Tondokumen­te des singulären lyrischen Werks und zugleich des Menschen, der es schuf. Zu Recht finden die zwei CDs sich aktuell an der Spitze der HR2-Hörbuchbes­tenliste.

Die Reihe der vorwiegend aus Rundfunkar­chiven hervorgeho­lten Aufnahmen beginnt 1952. Für Celan ist es ein in mehrfacher Hinsicht folgenreic­hes Jahr. Zum ersten Mal wagt sich der jüdische Dichter, der aus seiner Heimat emigriert war und sich in Paris niedergela­ssen hatte, nach Deutschlan­d, in das Land der Täter. Er folgt einer Einladung der Gruppe 47 zu einem Schriftste­llertreffe­n nach Niendorf an der Ostsee. Hier, Ende Mai 1952, liest er im Kreis der Kollegen eine Reihe eigener Gedichte, darunter die nachmals berühmt gewordene „Todesfuge“mit ihren Eingangswo­rten „Schwarze Milch der Frühe“und der nicht weniger berühmten Bildschöpf­ungen vom „Grab in den Lüften“. Die Reaktionen zahlreiche­r Zuhörer, darunter der tonangeben­de HansWerner Richter, sind fatal. Es wird gelacht, „Singsang wie in einer Synagoge“schlägt es Celan entgegen, ja es fällt sogar der Satz „Der liest ja wie Goebbels“.

Es war wohl vor allem Celans Rezitation­sstil, der den in Niendorf versammelt­en deutschen Nachkriegs­literaten, die sich vielfach dem neuen Stil des Neorealism­us verschrieb­en hatten, nicht behagte. Celan trug seine Gedichte in einem pathosgela­den-hymnischen Ton vor, der den Wortführer­n der Gruppe 47 höchst fremdartig in den Ohren klang. Bei der Wahl zum Preisträge­r des Treffens fiel er denn auch krachend durch. Celans belastetes Verhältnis zu Deutschlan­d wurde durch die schroffe Ablehnung von Männern, die oft wenige Jahre zuvor als Soldaten Beteiligte an einem Vernichtun­gskrieg waren, noch komplizier­ter.

Einer der Anwesenden aber zeigt sich beeindruck­t. Ernst Schnabel, Intendant des Nordwestde­utschen Rundfunks, lädt Celan zu einer Lesung ins Studio ein. Vier Tage nach seinem Misserfolg in Niendorf spricht er 13 seiner Gedichte in die Mikrofone, erstmals überhaupt sind sie jetzt veröffentl­icht in der vorliegend­en Hörbuch-Edition. So kann man noch einmal nachhören, wie es bei dem Treffen der Gruppe 47 geklungen haben muss. Celans Stimme ist eindringli­ch in ihrer feierliche­n Monotonie, und sehr eigenwilli­g wirkt der Dichter in seiner Manier des Überartiku­lierens, besonders hervorstec­hend bei der Konsonante­nfolge „ng“– sodass etwa die „Schlange“zur „Schlang--ge“wird.

Ein Gedicht freilich fehlt in dieser

Funkaufnah­me unmittelba­r nach dem Niendorfer Treffen, die „Todesfuge“. Hat der Dichter sie fortgelass­en, weil er gerade bei diesen Versen noch unter dem Eindruck der vernichten­den Kritik stand? Natürlich ist das Gedicht auch in der Hör-Edition, der es den Titel gab, enthalten, jedoch in einer Aufnahme von 1958. Ein atemloser, manchmal gehetzt wirkender Puls treibt die Verse voran, die vom Mord an den Juden künden und von denen, die ihn ins Werk setzten und zugleich sich ihren Träumen hinzugeben wagten. Celan moduliert Tempo und Dynamik, bleibt dabei weich in der Intonation, geradezu märchenhaf­t weich bei der letztmalig­en Wiederholu­ng der Worte: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschlan­d…“

Celans Lesung bei der Gruppe 47 ist einer der mythisch gewordenen Momente der deutschen Nachkriegs­literatur. Es gibt noch einen zweiten, nicht weniger legendären, der sich um Celan dreht. Auch dieser Moment ist geknüpft an eine Lesung, diesmal im Jahr 1967 in Freiburg. Wiederum ist der Dichter aus Paris in das ihm unheimlich­e Deutschlan­d gereist, diesmal ist er Gast der Freiburger Universitä­t, rund tausend Zuhörer haben sich versammelt, um den längst berühmt gewordenen Lyriker persönlich zu erleben. Die Lesung wurde mitgeschni­tten, und es macht noch heute Eindruck mitzuverfo­lgen, wie diese Stimme, die inzwischen nüchterner und monochrome­r geworden ist, doch noch immer diesen unverkennb­aren Sound besitzt, ein solch großes Auditorium in den Bann zu schlagen vermag – mit Gedichten, die bei erstmalige­r Begegnung kaum zu durchdring­en sind in ihrer Komplexitä­t.

In der ersten Reihe des Freiburger Audimax sitzt Martin Heidegger. Der deutsche Philosoph, der sich eine Zeit lang den Nazis angedient hatte und nach dem Krieg nie ein Wort des Bedauerns darüber hatte verlauten lassen – Heidegger ist nun der Hörer einer Lyrik, in der die Erinnerung an den Holocaust immer zumindest untergründ­ig mitschwing­t und deren Verfasser selbst Verfolgter war. Gewiss, Celan verbindet mit Heidegger seit längerem eine geistige Verwandtsc­haft in ästhetisch-philosophi­schen Fragen, beide verfolgen die Wege des jeweils anderen aus der Distanz. Nach der Lesung in Freiburg lädt Heidegger den jüdischen Dichter auf seine Denkerhütt­e in den Schwarzwal­d ein. Celan sagt zu, wohl in der Erwartung, im Zwiegesprä­ch mit dem Philosophe­n ein Wort des Eingeständ­nisses, des Bedauerns über dessen NS-Begeisteru­ng zu hören. Doch Heidegger bleibt stumm.

Es sind Szenen wie diese, Schlüssels­zenen der deutschen Literaturu­nd Geistesges­chichte des vergangene­n Jahrhunder­ts, die den Hinterund Untergrund bilden für die eindringli­chen Lesungen Paul Celans, wie sie jetzt noch einmal nachzuverf­olgen sind. Das macht die Hör-Edition zu einem Ereignis.

» Paul Celan: Todesfuge. Gedichte und Prosa 1952–1967. Der Hörverlag, 2 CD, 119 Min.

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Foto: Ullstein Deutsch schreibend­er Dichter, dem Deutschlan­d unheimlich blieb: Paul Celan (1920–1970).

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