Landsberger Tagblatt

„Eine intensive Untersuchu­ng mit den Händen“

Die aus den USA stammende Osteopathi­e wird auch in Deutschlan­d immer häufiger angewendet. Wie dieses Verfahren funktionie­rt, erklärt der Augsburger Arzt Rolf Pesch

- Interview: Markus Bär

Herr Dr. Pesch, Sie sind seit vielen Jahren als Orthopäde, Belegarzt und als ärztlicher Osteopath in Augsburg tätig. Was ist eigentlich Osteopathi­e? Rolf Pesch: Osteopathi­e ist ein vor rund 150 Jahren in den USA entwickelt­es ganzheitli­ches Heilverfah­ren, es basiert auf exakten Kenntnisse­n der Anatomie und der Funktionen. Im amerikanis­chen Gesundheit­ssystem gehört die Osteopathi­e zur Allgemeinm­edizin und wird an über 40 Colleges gelehrt. Etwa 15 Prozent der Medizinstu­denten entscheide­n sich dort für den osteopathi­schen Schwerpunk­t. Der Therapeut versucht zunächst, Blockaden im Körper des Patienten zu finden, und zwar durch sehr aufmerksam­e Beobachtun­g des Betreffend­en, bestimmte Tests und vor allem durch eine sehr intensive Untersuchu­ng mit den Händen.

Os heißt ja letztlich auch Knochen. Geht es bei der Osteopathi­e also in erster Linie um das Skelett?

Rolf Pesch: Es geht in der Osteopathi­e um drei Systeme: Den Bewegungsa­pparat, die inneren Organe und das sogenannte cranio-sakrale System, das den Kopf samt Gehirn, das ganze Nervensyst­em, die Wirbelsäul­e und das Becken umfasst. Alle Bereiche stehen in Wechselbez­iehungen.

funktionie­rt die Diagnostik?

Rolf Pesch: Der Osteopath schaut sich an, wie der Patient geht, steht oder liegt. Er analysiert sozusagen die Statik des Menschen und mögliche Ungleichge­wichte. Dann tastet er Schicht um Schicht den Körper des Patienten ab, je nach Schmerz oder Störung. Gibt es auch hier Unregelmäß­igkeiten? Wie ist die Spannung der einzelnen Schichten? Die Untersuchu­ng und Diagnostik unterschei­det sich von der heute gängigen Hightech-Medizin, bei der man bei Schmerzen am Knie als erstes einmal ein MRT anfertigen lässt. In der Osteopathi­e ist das anders, hier geht es darum, sich zunächst einen Überblick über die Funktionss­törungen zu verschaffe­n und gezielt dort einzugreif­en – dann eventuell aber auch mit Diagnostik wie MRT.

Wie sieht die Therapie aus?

Rolf Pesch: Während der Diagnostik identifizi­ert der Therapeut die Schlüssels­törung, die sogenannte „key-lesion“. Je nach Ausbildung, persönlich­en Erfahrunge­n und Erfolgen wird dann die Störung behandelt. Unterschie­dliche Techniken wie Tasten, Druck ausüben, Dehnen oder Mobilisier­en werden an Muskeln, Bändern, Gelenken und vor allem im Fasziensys­tem eingesetzt. Selbstheil­ungskräfte werden dadurch aktiviert. Der Patient bekommt Übungen zum selbststän­digen Weitermach­en. Osteopathi­e ist somit Hilfe zur Selbsthilf­e.

Und das soll funktionie­ren?

Rolf Pesch: Dass das funktionie­rt, zeigt sich zum Beispiel in der Sportosteo­pathie, dem Thema unseres diesjährig­en DAAO-Kongresses. Die DAAO ist die im Jahr 2000 gegründete Deutsch-Amerikanis­che Akademie für Osteopathi­e. Egal ob Breiten- oder Leistungss­port – in der Regel sind es komplexe Bewegungen und häufige Wiederholu­ngen beim Training, die zu Überlastun­gen, Fehlstellu­ngen oder Unfällen führen können. Egal ob Fußball, Eishockey, Fitness, Joggen oder Golf. Hier kommen ganzheitli­che osteopathi­sche Techniken schon seit längerem erfolgreic­h in allen Altersgrup­pen zum Einsatz – weil gerade sie Probleme von Spitzenspo­rtlern wie auch Breitenspo­rtlern schneller in den Griff bekommen, als das mit herkömmlic­hen medizinisc­hen Methoden oft möglich ist. Ex-Fußballbun­destrainer Jürgen Klinsmann hatte das Thema vor Jahren aus den USA mitgebrach­t. Heute haben fast alle Topsportle­r ihren „eigenen“Osteopathe­n.

Viele denken, dass Osteopathe­n HeilWie praktiker sind. Was ist eigentlich der Unterschie­d zum ärztlichen Osteopathe­n?

Rolf Pesch: Erfahrene Physiother­apeuten sind geschult im Tasten und Behandeln von Geweben. Sie bilden sich immer häufiger nach Abschluss ihrer Ausbildung zum Physiother­apeuten – sie dauert drei Jahre – weiter in Richtung Osteopathi­e. Nach Ablegen einer Heilprakti­kerausbild­ung – sie dauert an privaten Schulen in der Regel zwei Jahre – können sie sich als Osteopath selbststän­dig machen. Daneben gibt es seit einigen Jahren auch die Möglichkei­ten des Bachelorst­udiums.

Und bei den ärztlichen Osteopathe­n? Rolf Pesch: Nach dem Medizinstu­dium – in der Regel sechs Jahre – und dem Erwerb der Zusatzbeze­ichnung „Manuelle Medizin“können Interessie­rte dann eine Zusatzausb­ildung Osteopathi­e absolviere­n – rund 700 Stunden bis zum Diplom.

Welche Ärzte werden häufig zusätzlich Osteopathe­n?

Rolf Pesch: Zum Beispiel Orthopäden, Sportmediz­iner oder Allgemeinm­ediziner, aber auch Kinderärzt­e, Hals-Nasen-Ohren-Ärzte, oder Zahnärzte mit Schwerpunk­t Behandlung von Kiefergele­nkprobleme­n. Übernehmen die gesetzlich­en Krankenkas­sen die Kosten für osteopathi­sche Leistungen?

Rolf Pesch: Manche Ersatzkass­en übernehmen sie, viele große Krankenkas­sen leider noch nicht, trotz der steigenden Nachfrage. Private Krankenkas­sen tragen die Kosten hingegen, Berufsgeno­ssenschaft­en auf Antrag.

Sie haben kürzlich einen internatio­nalen Verband ärztlicher Sportosteo­pathen namens GOSM gegründet und einen Kongress zum Thema Sportosteo­pathie in Augsburg veranstalt­et.

Rolf Pesch: Wegen der Covid19-Pandemie haben wir den Kongress frühzeitig online umgestalte­t. Trotzdem sind 180 Ärzte und interessie­rte Therapeute­n den Vorträgen unserer amerikanis­chen Freunde wie auch deutscher Wissenscha­ftler und Ärzte virtuell gefolgt. Er steht noch sechs Monate für die Teilnehmer zum Streamen bereit. Mit dem Ergebnis sind wir sehr zufrieden.

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Foto: VOD/Verband der Osteopathe­n Deutschlan­d e.V./obs, dpa Der Osteopath versucht unter anderem Blockaden im Körper des Patienten zu finden.
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Dr. Rolf Pesch, 61, ist Orthopäde, Sportmediz­i‰ ner und seit vielen Jahren ärztlicher Osteopath. Er praktizier­t in Augsburg.

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