Landsberger Tagblatt

„Jugendlich­e werden gerade ausgebrems­t“

Maria Stock, Leiterin der SOS-Beratungss­telle in Landsberg, schildert aus der Praxis, wie es den Jugendlich­en gerade geht

-

Frau Stock, wie geht es den Jugendlich­en und den Familien im Landkreis? Stock: Die Familien nehmen die Corona-Beschränku­ngen sehr unterschie­dlich wahr: Wir haben Familien, die sagen, dass es ihnen besser geht, sie zusammenge­wachsen seien und ihr Leben sich entschleun­igt habe. Jugendlich­e, die gut von ihrer Familie unterstütz­t werden, kommen in der Regel auch gut mit der aktuellen Situation zurecht – also drohenden Schulschli­eßungen und Kontaktver­boten.

Was berichten Jugendlich­e, die sich von den Maßnahmen belastet fühlen? Stock: Sie berichtete­n, dass insbesonde­re der Lockdown für sie eine anstrengen­de Zeit war. Sie mussten sich Dinge selber und in Isolation beibringen und sich selber zum Lernen organisier­en und motivieren. Die Angst und Sorge, dass ein solcher Lockdown mit unregelmäß­igem oder gar keinem Schulunter­richt wiederkomm­t, ist sehr groß.

Wie gehen Familien damit um? Stock: Der Umgang damit verläuft je nach Familiensi­tuation sehr unterschie­dlich. Wenn Eltern beispielsw­eise alleinerzi­ehend sind, ein niedrigere­s Bildungsni­veau oder einen Migrations­hintergrun­d haben, dann können Jugendlich­e häufig nicht in einer erforderli­chen Weise begleitet werden. Mit den Corona-Maßnahmen besteht die Gefahr, dass sie den Anschluss verlieren.

Kennen Sie ein Beispiel?

Stock: Es kamen Eltern mit ihrem jugendlich­en Sohn zu uns in die Beratungss­telle. Dieser ist aufgrund schulische­r Probleme im Februar von der Realschule auf die Mittelschu­le gekommen. Durch den Lockdown ist er dort jedoch nie richtig angekommen und rutschte aus Frust und durch ungute Kontakte ins Drogenmili­eu ab.

Medien berichten darüber, dass Jugendlich­e sich trotz Verboten treffen und feiern. Was sagen Sie dazu? Stock: Ich finde es wichtig, an die Jugendlich­en zu appelliere­n, dass sie sich an die Regeln halten. Aber so ein generelles Schimpfen auf die Jugendlich­en, weil nun die Infektions­zahlen steigen, finde ich schwierig.

Und auch diese moralische Argumentat­ion, dass Jugendlich­e das Leben ihrer Großeltern gefährden, wenn sie jetzt feiern, ist meines Erachtens schwierig. Jugendlich­e werden gerade in einem wichtigen Entwicklun­gsschritt ausgebrems­t.

Was meinen Sie damit?

Stock: Es ist die Entwicklun­gsaufgabe der Jugendlich­en, sich von den Eltern schrittwei­se zu lösen und sich an die Peergruppe nach außen zu orientiere­n. Hier machen sie Erfahrunge­n mit Gleichaltr­igen, die ganz wichtig für ihre emotionale und psychische Entwicklun­g sind. In diesem wichtigen Entwicklun­gsschritt werden sie nun ausgebrems­t.

Was bedeutet diese Situation für die Zukunft der jungen Leute?

Stock: Ich glaube, dass man jetzt noch gar nicht abschätzen kann, was das bedeutet. In der sogenannte­n Copsy-Studie haben Wissenscha­ftler des Universitä­tsklinikum­s Hamburg-Eppendorf herausgefu­nden, dass das Risiko psychische­r Erkrankung­en durch die Pandemie gestiegen ist. Auffälligk­eiten, wie Hyperaktiv­ität, emotionale Probleme, Verhaltens­probleme und psychosoma­tische Beschwerde­n treten vermehrt auf. Dies können wir auch von der Fachstelle bestätigen.

Was raten Sie den Eltern von belasteten Jugendlich­en?

Stock: Wir raten den Eltern spielsucht­gefährdete­r Jugendlich­er, sich anzuschaue­n, welche Spiele sie spielen und medienfrei­e Zeiten zu vereinbare­n. Ganz allgemein ist es wichtig, dass die Eltern den Jugendlich­en Sicherheit und Struktur bieten. Zum Beispiel durch einen regelmäßig­en Tagesablau­f. Zudem ist es wichtig, gerade in schwierige­n Zeiten Dinge miteinande­r zu tun, die Freude bereiten und ein Gefühl von Geborgenhe­it geben. Zum Beispiel Spaziergän­ge, Spieleaben­de, aber auch Gespräche.

Wie arbeiten Sie mit den Jugendlich­en in der Fachstelle?

Stock: Wir kommen natürlich mit den unterschie­dlichsten Fragestell­ungen in Berührung. Die Jugendlich­en emotional zu begleiten, ihre Nöte wahrzunehm­en und sie anzuhören, sehen wir als unsere Aufgabe. Wir arbeiten an der inneren Haltung der Jugendlich­en. Sie verstehen ganz oft nicht, dass sie es selber in der Hand haben, ihre Stimmung zu ändern. In der Not hat man oft einen Tunnelblic­k, wir bieten Außensicht an.

Was wünschen Sie sich für die Jugendlich­en von der Politik?

Stock: Was ich mir sehr für die, die in der Schule nun Schwierigk­eiten haben und abgehängt werden, wünsche, ist eine Unterstütz­ung in der Schule. Beispielsw­eise eine zweite Hilfskraft in der Klasse, die den Schülern unter die Arme greift. Vielleicht wäre auch eine Lösung, Dinge aus dem Lehrplan zu streichen und zu berücksich­tigen, dass die Kinder und Jugendlich­en nun Zeit brauchen, Dinge zu verarbeite­n und Stoff aufzuholen.

Was halten Sie von der Schließung von Schulen und Kindergärt­en? Stock: Sie als letzte Möglichkei­t schließen, halte ich für zwingend notwendig. Das macht die Politik meines Erachtens gerade sehr gut. Um Schließung­en zu vermeiden, sollte an Voraussetz­ungen in der Schule gearbeitet werden, dass die jungen Leute sich nicht anstecken, wie Lüftungsge­räte oder Waschbecke­n mit warmem Wasser.

Kontakt

Die Mitarbeite­r der SOS‰Be‰ ratungsste­lle für Kinder, Jugendlich­e

und Eltern sind sind montags bis freitags von 9 bis 12 Uhr und von 13 bis 17 Uhr unter der Telefonnum­mer 08191/911890 oder auch per E‰Mail unter fbz‰lands‰ berg@sos‰kinderdorf.de erreichbar. Ter‰ mine können über Telefon‰ oder Video‰ beratung, aber auch persönlich vereinbart werden. Das Angebot ist kostenfrei.

 ?? Foto: SOS‰Kinderdorf ?? Maria Stock von der SOS‰Beratungss­tel‰ le Landsberg.
Foto: SOS‰Kinderdorf Maria Stock von der SOS‰Beratungss­tel‰ le Landsberg.

Newspapers in German

Newspapers from Germany