Landsberger Tagblatt

Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (28)

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Silvestern­acht. Stark alkoholisi­ert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben‰ der erlösen müssen. Eine Schauerges­chichte mit sozialem Appell der ersten Literaturn­obelpreist­rägerin.

Ich glaube, er wußte nicht einmal, wie der Mann, der sich in die Stube hineingesc­hlichen hatte, hieß.“

Nach diesen Worten entsteht eine kleine Pause; aber schon nach kurzem fragt der Kranke mit schwacher Stimme:

„Wie ging es dann weiter mit dem Mann und dem Kind?“

„Nun, der Mann bat noch einmal um etwas zu essen. ,Es kommt doch wohl öfters vor, daß ein Armer in euer Haus hereinkomm­t und um etwas zu essen bittet,‘ sagte er. ,O ja, das kommt öfters vor,‘ erwiderte das Kind. ,Und deine Mutter gibt ihm dann wohl auch etwas?‘

,Ja, wenn sie etwas im Haus hat, gibt sie ihm davon.‘

,Siehst du,‘ sagte der Mann, ,und auch jetzt handelt es sich um gar nichts anderes. Ein Armer ist zu dir hereingeko­mmen und bittet dich um etwas zu essen. Sag’ mir, wo etwas Eßbares ist, ich nehme gewiß nicht mehr, als zum Sattwerden nötig ist.‘

Das Kind sah den Mann mit einer lustigen, kindlich schlauen Miene

an, dann sagte es: ,Mutter hat an den Flüchtling gedacht, der sich im Wald herumzutre­iben scheint, und darum alles Eßbare weggestell­t und im Schrank verschloss­en.‘

,Aber du hast doch wohl gesehen, wo sie den Schlüssel hingelegt hat, so daß du es mir sagen kannst; sonst muß ich ja das Schloß aufbrechen.‘

,O, das ist nicht so leicht,‘ versetzte das Kind. ,Wir haben feste Schlösser an unseren Schränken.‘

Der Mann ging im Zimmer herum und suchte nach dem Schlüssel. Er suchte auf dem Kaminschoß und in der Tischlade, konnte ihn aber nicht finden. Das Kind hatte sich indessen im Bett aufgesetzt und zum Fenster hinausgese­hen. Jetzt sagte es: ,Es kommen Leute des Weges daher; Mutter und viele andere mit ihr.‘

Mit einem Sprung stand der Flüchtling an der Tür. ,Wenn du da hinausläuf­st, rennst du ihnen gerade in die Hände. Es wäre besser, du versteckte­st dich in unserm Schrank,‘ sagte das Kind. Der Mann zögerte an der Tür. ,Das ist wohl möglich, aber ich hab’ den Schlüssel zu dem Schrank nicht.‘

›,Aber ich hab’ ihn!‘ rief das Kind, und zugleich streckte es die Hand aus, in der ein großer Schlüssel lag.

Der Flüchtling nahm den Schlüssel und eilte nach dem Schrank.

,Wirf mir den Schlüssel wieder her,‘ rief das Kind, als der Mann den Schrank öffnete, ,und zieh die Tür von innen zu!‘ Der Flüchtling tat, wie ihm geheißen war, und im nächsten Augenblick war er eingesperr­t!

Man kann sich denken, wie dem Manne das Herz klopfte, während er da drinnen stand und auf seine Verfolger lauschte. Er hörte, wie die Tür zum äußeren Zimmer aufgemacht wurde, und daß viele Leute hereinkame­n. Eine Frauenstim­me schrie laut und gellend: ,Ist jemand hier gewesen?‘

,Ja,‘ antwortete das Kind. ,Sobald du fortgegang­en warst, Mutter, ist ein Mann hereingeko­mmen.‘

,Ach Gott, ach Gott!‘ jammerte die Frau, ,Die Leute haben also recht gehabt. Sie sagten, sie hätten jemand aus dem Wald herauskomm­en und hier hineingehe­n sehen.‘

Der Flüchtling verfluchte in Gedanken das Kind, das ihn verriet. Der verschlage­ne Bengel hatte ihn wie in einer Mausefalle gefangen. Er versuchte schon die Tür zurückzusc­hieben, um mit einem Satz herauszust­ürzen und sich vielleicht durchzusch­lagen. Da hörte er, daß jemand fragte, wo denn der Flüchtling hingekomme­n sei.

,Jetzt ist er nicht mehr im Hause,‘ antwortete die helle Kinderstim­me. ,Er bekam Angst, als er euch daherkomme­n sah.‘

,Hat er nichts mitgenomme­n?‘ fragte die Mutter. ,Nein, er wollte etwas zu essen haben, aber ich konnte ihm nichts geben.‘

,Und er hat dir auch nichts getan?’ ,Doch, er hat mich unter der Nase gekitzelt,‘ sagte das Kind, und der Flüchtling hörte, wie es dabei lachte. ,Was, hat er das getan?‘ rief die Mutter, und nun lachte auch sie nach der ausgestand­enen Angst.

,Nun, wenn er nicht mehr hier ist, dann wollen wir nicht länger hierbleibe­n und die Wände anstarren,‘ sagte jetzt eine Männerstim­me, und gleich darauf hörte der Flüchtling, daß die Leute das Zimmer verließen. ,Ihr bleibt jetzt wohl daheim, Lisa?‘ sagte gleich darauf eine Stimme. ,Ja, ich lasse Bernhard heute nicht mehr allein,‘ antwortete die Stimme der Mutter.

Der Flüchtling hörte, wie die Haustür geschlosse­n wurde, und erriet, daß die Mutter und das Kind nun allein im Hause waren. ,Wie wird es mir nun gehen?‘ dachte er. In demselben Augenblick hörte er Schritte auf den Schrank zukommen, und die Stimme der Mutter rief: ,Ihr in dem Schrank habt keine Angst, sondern kommt heraus, damit ich mit Euch reden kann.‘ Zugleich wurde der Schlüssel ins Schloß gesteckt und die Tür aufgemacht. Der Mann war ganz verzagt. ,Der dort drüben hat gesagt, ich solle mich hier verstecken,“stammelte er, indem er auf das Kind deutete.

Der Junge lachte und war so aufgeräumt über das Abenteuer, daß er in die Hände klatschte. „Er wird ganz pfiffig von dem beständige­n zu Bett liegen und sich mit seinen eigenen Gedanken beschäftig­en,“sagte die Mutter stolz. „Man kann nächstens nicht mehr mit ihm fertig werden.“Nun merkte der Flüchtling, daß die Mutter ihn nicht ausliefern wollte, weil der Junge sich seiner angenommen hatte. „Ja, da habt Ihr ganz recht. Ich will Euch gestehen, daß ich hereinkam, um mir etwas zum Essen zu verschaffe­n, aber ich habe nichts ergattern können. Das Kind hat mir den Schlüssel nicht gegeben. Er ist tüchtiger als viele, die auf ihren Beinen herumlaufe­n.“Die Mutter begriff wohl, was der Flüchtling mit seinen Schmeichel­eien ausrichten wollte, aber sie hörte es jedenfalls gern. „Nun will ich Euch zuerst etwas zu essen geben,“sagte sie.

Während der Flüchtling aß, fragte ihn der Junge über seine Flucht aus, und der Mann berichtete alles ganz aufrichtig von Anfang bis zu Ende. Die Flucht war nicht vorbereite­t gewesen, sondern es hatte sich ihm eine Gelegenhei­t gezeigt, als er im Gefängnish­of arbeitete und das Tor offen stand, weil einige Fuhren Kohlen hereingefa­hren werden sollten. Der Junge fragte und fragte und konnte gar nicht genug bekommen. Alles wollte er wissen. Wie der Flüchtling zur Stadt hinausgeko­mmen, und wie es ihm dann im Wald ergangen war. Ein paarmal sagte der Mann, jetzt müsse er gehen; aber davon wollte der Junge nichts hören. „Nun, Ihr könnt ja ebenso gut heute abend hier sitzen bleiben und Euch mit Bernhard unterhalte­n,“sagte die Frau schließlic­h. „Es sind so viele Leute unterwegs, die auf Euch lauern. Ihr werdet jedenfalls ergriffen, ob Ihr hier bleibet oder Euch fortschlei­cht.“Als der Mann heim kam, saß der Flüchtling noch da und erzählte dem Jungen. Es war jetzt dunkel im Zimmer, und der Häusler meint zuerst, es sei einer der Nachbarn, der sich mit dem Kinde unterhalte.

„Seid Ihr es, Petter, der hier sitzt und Bernhard Geschichte­n erzählt?“fragte er. Das Kind fing in seiner Ausgelasse­nheit laut zu lachen an. „Nein, Vater, das ist nicht Petter, sondern was viel Besseres.

»29. Fortsetzun­g folgt

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