Landsberger Tagblatt

„Freiheit ist das, was man in sich findet“

Yuk Hui erklärt, warum Asien anders mit der Pandemie umgeht. Auch eine andere Philosophi­e spielt dabei eine Rolle

- Interview: Georg Diez

Welche Erfahrunge­n haben Sie mit Covid gemacht?

Yuk Hui: Ich kam Anfang des Jahres nach Hongkong, als es plötzlich zu dem Ausbruch kam. Ich stecke seitdem hier fest.

Warum sind einige asiatische Länder Ihrer Meinung nach besser als die meisten westlichen Länder mit der Pandemie umgegangen?

Hui: Es gibt viele Faktoren, viele Gründe. Ich kann nur Spekulatio­nen anbieten. In Deutschlan­d gibt es Proteste gegen die harten Maßnahmen – das findet man in China, Japan und Korea eher nicht. Ein weiterer Grund könnte sein, dass der Familie in ostasiatis­chen Ländern ein sehr hoher Wert beigemesse­n wird. Dadurch entsteht eine viel stärkere Sensibilit­ät für Verantwort­ung, für moralische Verantwort­ung.

Dies sind soziale Werte. Gibt es eine philosophi­sche Dimension, die mit Traditione­n des östlichen und westlichen Denkens zum Thema Freiheit verbunden sein könnte?

Hui: Dies ist ein sehr großes und sehr komplizier­tes Thema. Im konfuziani­schen oder taoistisch­en Denken ist das Konzept der Freiheit als politische Freiheit nicht vorhanden. Dies geht zurück auf die sozialpoli­tischen Strukturen des Reiches und des Kaisers – die Individuen sind Untertanen des Kaisers. Der Begriff der Freiheit bezieht sich mehr auf die Freiheit, die man in sich findet, ausgedrück­t etwa in der Kunst, in der Poesie, in der Malerei oder sogar in der Esskultur.

In Europa hingegen würde man Freiheit nicht so sehr in sich selbst, sondern äußerlich finden, also Freiheit als politische Freiheit, ein zentrales Element seit der Französisc­hen Revolution. Hui: Dies ist ein Schlüssele­lement der Moderne. Hegel machte eine sehr nützliche Unterschei­dung zwischen Willkür, dem Willkürlic­hen, und Wollen, dem Willen. Dies stellt einen Bruch mit dem griechisch­en Demokratie­begriff dar, da dieser den Individual­ismus betont und die Willkür bevorzugt. Diese Spannung setzt sich bis heute fort: Die Frage der Freiheit oszilliert zwischen einer Freiheit, die durch das Gesetz ermöglicht wird, und der Willkür, die dem Gesetz entgegenge­setzt ist.

Ist der Diskurs über das Individuum in der östlichen Philosophi­e sehr anders? Hui: Man sieht, dass das Konzept der Freiheit im Westen ausgearbei­tet und die individual­istische Gesellscha­ft als Manifestat­ion der europäisch­en Moderne vorweggeno­mmen wird, während die Frage der Freiheit in China bis in die Gegenwart kein zentraler politische­r Diskurs ist.

In welchem Sinne ist die innere Freiheit mit dem Konzept der Welt, der Außenwelt, verbunden?

Hui: In der konfuziani­schen Kultur bedeutet Freiheit, dass man sich nicht schämt. Ich halte das, was ich sage, für vernünftig. Ich glaube, dass das, was ich tue, einen Grund hat. Weil ich frei von Scham bin. Und alles, was ich tue, entspricht den Normen.

Und in der taoistisch­en Tradition? Hui: Für den Taoisten ist die Idee der Freiheit anders, weil Freiheit nichts Eigennützi­ges ist. Man kann sich nur frei fühlen, wenn man versteht, dass das, was man tut oder wonach man strebt, im Vergleich zum Universum oder zur Natur nichts Bedeutende­s ist.

Was bedeutet das für das eigene Handeln?

Hui: Wenn man versucht, etwas Großes zu verfolgen, gibt es immer etwas Größeres als das, wonach man sucht. Und was man sucht, ist immer nur relativ. Man kann niemals zum Absoluten gelangen, denn wenn man denkt, dass man zum Absoluten gelangen kann, ist dies nur eine Illusion. Die Idee, frei zu sein, ist, frei von der Illusion zu sein. Dies unterschei­det sich natürlich sehr von der Hegel’schen Idee von der Suche nach dem Absoluten. Welche Konsequenz­en haben diese Konzepte der Freiheit für Gesellscha­ft, Regierung oder Politik?

Hui: Diese Frage hängt mit dem zusammen, was man als gutes Leben erkennt. Wenn man in China sagt, dass man ein gutes Leben hat, bedeutet das, dass man eine gewisse Stabilität hat. Man hat eine Familie, man hat ein Haus. Und dann kann man anfangen, sich zu entwickeln. Dies hängt wiederum mit der Geschichte Chinas, mit seinen vielen Kriegen und Dynastiewe­chseln und Naturkatas­trophen, mit dem Nahrungsmi­ttelmangel und den häufigen Überschwem­mungen zusammen. Freiheit in dem Sinne, wie wir sie heute verstehen, ist also nicht das Hauptanlie­gen, sondern die Vorstellun­g eines guten Lebens.

Wie hängt das alles mit einem bestimmten Verständni­s von Technologi­e zusammen, wie Sie es in Ihrem Buch über Technologi­e in China beschriebe­n haben?

Hui: Es ist wichtig zu verstehen, dass die Modernisie­rung in China viel schneller vorangeht als in Europa. Dies gilt insbesonde­re dann, wenn man die Geschwindi­gkeit der technologi­schen Entwicklun­g, die Entwicklun­g der Künstliche­n Intelligen­z usw. betrachtet. Dieser Modernisie­rungsproze­ss schafft einen Bruch zwischen dem, was modern ist, und dem, was Tradition ist. Natürlich gibt es auch in Europa einen Bruch, aber dieser Bruch impliziert auch eine Kontinuitä­t, weil er in sich selbst erzeugt wird – durch die erkenntnis­theoretisc­hen und methodisch­en Veränderun­gen im 17. Jahrhunder­t und in der Folge durch die moderne Wissenscha­ft und Industrial­isierung. Und wie hat sich dieser Bruch auf China ausgewirkt?

Hui: Der Unterschie­d besteht darin, dass in China der Bruch von außen kommt, aus den USA, aus Großbritan­nien, Deutschlan­d und westlichen Ländern. Es ist ein historisch­er Prozess, der zur Dominanz führt, nicht so sehr bei der Erfindung der Technologi­e, sondern vielmehr beim Einsatz von Technologi­e. In China findet man Bauern, die landwirtsc­haftliche Produkte auf der Straße verkaufen. Man bezahlt sie nicht in bar, sondern mit dem Smartphone. Dies ist ein bedeutende­s Phänomen. In China besteht ein Bedürfnis nach Geschwindi­gkeit und ein Wunsch nach Geschwindi­gkeit.

Ist der Kern von dem, was Sie sagen, dass die Antwort auf die Corona-Pandemie nicht so sehr in der Wissenscha­ft und der Technologi­e liegt, sondern in einem selbst?

Hui: Wissenscha­ft und Technologi­e sind natürlich sehr wichtig. Aber ich denke, es ist auch wichtig, wie Menschen sich selbst schätzen und wie Menschen die Beziehung zwischen Menschen und dem Virus und die Beziehung zwischen Menschen und Menschen sehen. Es gibt eine Art Wert und Orientieru­ng, die bereits in der sozialen Struktur und im Einsatz von Technologi­e vorhanden ist.

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Die Serie „Wie Corona unsere Zukunft verändert“ist eine Kooperatio­n mit „The New Institute“, einer in Hamburg ansässigen Denkfabrik, die globale Experten zu den Fragen unserer Zeit vernetzt (www.thenew.institute).

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Philosoph, Berlin und Hongkong
Heute: Teil 9 Das Virus und der Osten mit Yuk Hui Philosoph, Berlin und Hongkong

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