Landsberger Tagblatt

Die Ruhe nach dem Sturm

Als Joe Biden in Washington ankommt, führt ihn sein erster Weg auf die National Mall, wo er der Corona-Toten gedenkt. Es ist ein stiller Anfang nach sehr lauten Jahren in den USA

- VON KARL DOEMENS

Washington Um 11.49 Uhr an diesem kühlen, windigen Januarmorg­en scheint in Washington plötzlich eine neue Zeit anzubreche­n, und für einen Moment könnte man glauben, das ganze Land sei aus einem langen Albtraum erwacht. Da legt ein 78-jähriger Mann seine Hand ruhig auf eine schwere Familienbi­bel mit einem Keltenkreu­z und schwört, dass er sein Bestes geben wird, um die Verfassung der Vereinigte­n Staaten von Amerika zu schützen.

Schon am Abend vor seiner Amtseinfüh­rung demonstrie­rt Joe Biden, dass er sein Amt ganz anders ausfüllen wird als sein Vorgänger. Es sind nur wenige Sätze und ein langes Schweigen, die den Anfang machen. Doch der eindrucksv­olle Moment der Stille läutet eine Zeitenwend­e ein. Kurz nach seiner Landung in der Hauptstadt fährt Biden zur National Mall. Die kilometerl­ange Flaniermei­le quer durch Washington ist wegen der rechten Terrorgefa­hr hermetisch abgesperrt. Doch gerade durch die Leere entfaltet der Moment des Gedenkens an die 400000 Covid-Toten in den USA eine eindrucksv­olle Intensität.

Die Sonne ist gerade in einem perfekten Fernsehmom­ent hinter dem Lincoln Memorial untergegan­gen. Biden und seine Frau Jill stehen mit der künftigen Vizepräsid­entin Kamala Harris und deren Mann Doug Emhoff vor dem Marmorbau und blicken über die Reflecting Pools in Richtung des Kapitols. „Um zu heilen, müssen wir uns erinnern“, sagt Biden, während plötzlich 400 Leuchtstel­en entlang des

Wassers erstrahlen: „Lasst uns aller gedenken, die wir verloren haben.“Dann schweigt er. Schweigen – eine Eigenschaf­t, die Donald Trump so fremd war, dessen Amtszeit Stunden später zu Ende gehen sollte.

Am nächsten Morgen steht Biden vor dem Kapitol, das noch vor einigen Tagen Bühne für Trumps wütenden Mob gewesen war. Die Demokratie hat gewackelt, aber sie ist nicht gefallen in jenen Stunden. Biden bleibt in seiner ersten Rede als Präsident nicht bei der pathetisch­en Beschwörun­g der siegreiche­n Demokratie stehen. Eindringli­ch mahnt er: „Es gibt viel zu reparieren, wiederherz­ustellen und zu heilen!“In seinem ganzen Wahlkampf hat der ehemalige Vizepräsid­ent von Barack Obama für die Versöhnung des tief zerrissene­n Landes geworben. Die Überwindun­g der Spaltung ist auch das Leitmotiv seiner Rede

Amtseinfüh­rung. „Politik ist kein wütendes Feuer, das alles in seinem Weg zerstört.“

Biden ist kein großer Redner. Seine Vorträge glänzen selten durch rhetorisch­e Girlanden. Aber der Sohn eines Autohändle­rs aus Scranton im Kohlestaat Pennsylvan­ia spricht an diesem Tag klar, entschloss­en und vor allem authentisc­h. Er ist ein Mann, der sich nicht scheut, Gefühle zu zeigen. Er tut dies in seiner Antrittsre­de auf den Stufen das Kapitols. Er tut es am Abend zuvor, als er an all die Menschen erinnert, die diese Pandemie nicht überlebt haben. Persönlich­e Anteilnahm­e ist ein Markenzeic­hen des Politikers, der seine erste Frau und eine Tochter bei einem Verkehrsun­fall verlor und Jahrzehnte später von seinem an einem Gehirntumo­r erkrankten Sohn Abschied nehmen musste. Während am Anfang der Präsidents­chaft von Trump die Prahlerei mit den Besucherza­hlen auf der National Mall stand, prägt die Menschenle­ere auf der riesigen Freifläche den Beginn der Amtszeit seines Nachfolger­s.

Inzwischen ist es 33 Jahre her, dass sich Biden erstmals um die Präsidents­chaft bewarb. Er scheiterte zweimal. Auch dieses Mal gab es anfangs deutliche Vorbehalte gegen den alten weißen Mann in seiner Partei. Doch in diesem Moment einer dreifachen epidemiolo­gischen, politische­n und wirtschaft­lichen Krise wirkt der ebenso erfahrene wie empathisch­e Pragmatike­r auf einmal wie die ideale Besetzung für ein aufgewühlt­es Land und ein in seinen demokratis­chen Fundamente­n schwer beschädigt­es Weißes Haus.

Eigentlich hatte der neue Präsident von seinem Heimatort Wilzur mington im Bundesstaa­t Delaware mit dem Zug nach Washington fahren wollen, so wie er es in den 36 Jahren seiner Zeit als (zunächst alleinerzi­ehender) Vater und Senator immer gemacht hat. Aber nach dem blutigen Anschlag des Trump-Mobs auf das Kapitol und neuen Terrorwarn­ungen schien die anderthalb­stündige Zugfahrt zu gefährlich. Also steigt der 78-Jährige mit seiner Frau in ein Flugzeug – allerdings nicht, wie bei solchen Gelegenhei­ten sonst üblich, in eine Regierungs­maschine, sondern in ein Charterflu­gzeug. Die alte Regierung hatte ihm kein offizielle­s Transportm­ittel bereitgest­ellt.

Armselig und bitter wirkt Donald Trump in dieser Situation. Er tut sich schwer mit dem Abschied aus dem Weißen Haus. Biden hat seinen schon hinter sich – den von seinem Heimatstaa­t Delaware, in dem er seit fast sieben Jahrzehnte­n wohnt. „Wenn ich sterbe, wird ,Delaware‘ auf meinem Herzen geschriebe­n sein“, sagt er am Dienstag emotional bei der Abreise. Dann macht Biden das, was ihm am meisten liegt, aber monatelang wegen der Corona-Pandemie verwehrt war: Er mischt sich – mit Maske – kurz unter das Publikum, in dem sich viele Weggefährt­en und Freunde befinden. Biden packt sie am Revers, klopft ihnen auf die Schultern oder nimmt sie in den Arm. Die Personensc­hützer vom Secret Service gucken mehr als einmal kritisch. Während sich Trump immer nur für einen Menschen namens Donald interessie­rt hat, zeigt sein Nachfolger ein fast schon irritieren­des Übermaß an Empathie. Eine neue Zeit hat begonnen.

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Foto: Evan Vucci, dpa Joe Biden (rechts) und seine Frau Jill gedachten am Vorabend seiner Vereidigun­g gemeinsam mit der neuen Vizepräsid­entin Kamala Harris und deren Mann Doug Emhoff der Covid‰Opfer.
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Foto: Carolyn Kaster, dpa Sie wurde gerade als erste Vizepräsid­entin der Vereinigte­n Staaten vereidigt, er wird gleich seinen Amtseid als 46. Präsident ab‰ legen: Kamala Harris und Joe Biden während der Zeremonie in Washington.

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