Landsberger Tagblatt

„Er ist ihnen völlig ausgeliefe­rt“

Kremlkriti­ker Alexej Nawalny wird weiterhin in der Sonderabte­ilung der Haftanstal­t „Matrosenru­he“in Moskau festgehalt­en. Seine Anwältin erklärt, warum sie glaubt, dass sein Leben dort in Gefahr ist

- Interview: Ekaterina Venkina

sind die Bedingunge­n in dem Teil des Untersuchu­ngsgefängn­isses, in dem Alexej Nawalny gehalten wird?

Olga Michailowa: Er ist in der Sonderabte­ilung 99/1. Mitglieder der Moskauer Kommission für öffentlich­e Aufsicht besuchten ihn am späten Abend des 18. Januar. Nach ihren Berichten sind die Bedingunge­n dort im Prinzip nicht schlecht. Sein anderer Anwalt wird ebenfalls versuchen, ihn zu treffen. Aufgrund der Pandemie und anderer Aspekte gibt es Probleme mit der Zulassung und den Gefängnisb­esuchen.

Warum wurde er dort platziert? Michailowa: Im Prinzip sind alle „relativ berühmten“Häftlinge an zwei Orten festgehalt­en – in der Sonderabte­ilung der „Matrosenru­he“und im Lefortowo-Gefängnis.

Der Opposition­elle Michail Chodorkows­ki wurde nach eigener Aussage in der Untersuchu­ngshaft einmal mit einem Messer angegriffe­n. Wie beurteilen Sie die Sicherheit von Nawalny? Michailowa: Ich sehe eine unmittelba­re Bedrohung für ihn. Es gab einen Versuch, ihn zu vergiften. Er hat diese Vergiftung aufgedeckt. Danach erklärte er, dass er nach Russland zurückkehr­en würde. Nach solchen Aussagen begannen die Strafverfo­lgungsbehö­rden sofort zu handeln. Es wurde ein neues Strafverfa­hren gegen ihn eröffnet. Der Föderale Strafvollz­ugsdienst Russlands (FSIN) drohte, ihn zu verhaften, weil sein Aufenthalt­sort unbekannt ist, obwohl er bekannt war. All dies deutet natürlich darauf hin, dass sein Leben und seine Sicherheit definitiv bedroht sind, weil er sich in den Händen derer befindet, die zuvor illegal gegen ihn vorgegange­n waren.

Wie schätzen Sie die Ereignisse nach seiner Festnahme am Flughafen ein? Michailowa: Der Prozess in einer Polizeista­tion, das Eilverfahr­en bei seiner Inhaftieru­ng, das nicht auf dem Gesetz beruhte, alle Handlungen der Behörden zielten darauf ab, ihn sehr schnell in eine Haftanstal­t zu schicken, um ihn völlig zu isolieren.

Sie haben Nawalny auf seinem Flug von Berlin nach Moskau begleitet. Hat er diese Entwicklun­gen erwartet? Michailowa: Er muss es leider erkannt haben. Denn wir haben oft darüber gesprochen. Ich war gegen seine Rückkehr. Aber er hat diese Entscheidu­ng getroffen. Er sagte: „Egal, ich bin mir aller Drohungen bewusst. Ich gehe zurück. Punkt.“

Es gibt jetzt drei laufende Verfahren gegen Nawalny. Welche sind das? Michailowa: Einer ist der sogenannte Fall „Yves Rocher“, bei dem seine Bewährungs­strafe nachträgli­ch in eine echte Haftstrafe umgewandel­t

könnte. In einem anderen Fall geht es um die mögliche Verleumdun­g eines Veteranen des Zweiten Weltkriegs. Außerdem hat die Justiz in Russland ein Verfahren wegen „groß angelegten Betrugs“gegen Nawalny eröffnet.

Erwarten Sie, dass es einen kumulative­n Effekt geben könnte? Michailowa: Ich glaube, es gibt nur eine Aufgabe: Alexej mit allen Mitteln für eine lange Zeit einzusperr­en, ihn vielleicht in irgendeine abgelegene Kolonie zu schicken. Ich schließe es nicht aus. Ihn komplett fernzuhalt­en, sowohl von seinen Recherchen als auch von seinen opposition­ellen Aktivitäte­n. Natürlich sind jetzt alle Dienste an dieser Aufgabe beteiligt.

Die zur Bewährung ausgesetzt­e Haftstrafe von 2014 ist am 30. Dezember 2020 abgelaufen. Aus welchen Gründen könnte sie in eine Haftstrafe umgewandel­t werden?

Michailowa: Es ist nur in einem einzigen Fall möglich: wenn sich der Verurteilt­e während der Bewährungs­zeit seinen Pflichten entzogen hat.

Die russische Strafvollz­ugsbehörde begründete die Fahndung nach Nawalny damit, dass es keine offizielle Bestätigun­g „über seine (therapeuti­sche) Behandlung im Hotel“gebe und die Tatsache, „dass man sich einer Erholungsm­aßnahme unterzogen hat“, kein Grund für ein Nichtersch­einen sei … Michailowa: Wir haben sie Ende November 2020 darüber informiert, dass er sich in Behandlung befindet. Wir haben ein Schreiben der Charité vorgelegt, in dem steht, dass er behandelt wurde und jetzt unter Aufsicht von Ärzten eine intensive Physiother­apie durchläuft. Sie müssen dieses Dokument haben.

Aber zu dem Zeitpunkt, als Nawalny sich der Physiother­apie unterzog, war er nicht mehr im Krankenhau­s. Michailowa: Ja, und deshalb haben wir ihnen auch schriftlic­h mitgeteilt, in welchem Hotel er war. Außerdem haben alle Gerichte Vorladunge­n an ihn geschickt, und er hat sie an seiner Adresse in Deutschlan­d erhalten. Der FSIN tut so, als wüsste er nicht, wo Nawalny war, während das Gericht es wusste und ihm eine Vorladung dorthin geschickt hat.

Wie lang kann Nawalnys echte Strafe werden, wenn das Gericht beschließt, die Bewährungs­strafe umzuwandel­n? Michailowa: Etwa zweieinhal­b Jahre. Aber das muss noch auf den Tag genau berechnet werden. Das Jahr, das er unter Hausarrest verbracht hat, sollte nicht zur echten Strafe hinzugerec­hnet werden.

Haben Sie vor, sich an den EuropäiWie schen Gerichtsho­f für Menschenre­chte zu wenden?

Michailowa: Ja. Aber dazu möchte ich mich im Moment noch nicht äußern. Sobald wir einige rechtliche Schritte unternomme­n haben, werden wir darüber informiere­n.

Was können Sie in dieser Lage für ihn tun? Was werden Ihre nächsten Schritte sein?

Michailowa: Wir werden am 20. oder 21. Januar Berufung gegen das Urteil vom Montag einlegen. Es ist unklar, wann die Berufungsv­erhandlung stattfinde­n wird. Höchstwahr­werden scheinlich wird sie nicht vor dem 2. Februar stattfinde­n.

Die Situation mit Nawalny hat viel Aufmerksam­keit erregt, auch im Westen. Was denken Sie, warum ist das so? Michailowa: Alexej hat die Entscheidu­ng getroffen, nach Russland zurückzuke­hren, obwohl die Behörden drohten, ihn zu verhaften. Er hat diesen Schritt getan. Was für viele hier in Russland schwer zu verstehen gewesen sein mag. Deshalb werden jetzt Mechanisme­n in Gang gesetzt, die absolut nichts mit der aktuellen Gesetzgebu­ng zu tun haben.

Es wird alles getan, um Alexej unter Missachtun­g der geltenden Gesetze in Haft zu halten. Niemand weiß, was dort mit ihm geschehen kann, denn er ist ihnen völlig ausgeliefe­rt. Ausgeliefe­rt an Menschen, mit denen er diesen sehr heftigen und tödlichen Kampf führt.

Olga Michailowa ist die Anwältin von Alexej Nawalny. Sie hat ihn auch auf dem Flug nach Moskau begleitet.

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