Landsberger Tagblatt

Klassen‰Kampf

Die Frage nach dem Umgang mit den Schulen entzweit Bundesregi­erung und Ministerpr­äsidenten. Sollen die Bildungsst­ätten und die Kitas geschlosse­n bleiben oder öffnen? Sogar die Kanzlerin wird richtig wütend

- VON ULI BACHMEIER, CHRISTIAN GRIMM UND STEFAN LANGE

Berlin/München Es kommt selten vor, dass Angela Merkel die Beherrschu­ng verliert. Die Kanzlerin agiert wohltemper­iert und ist stets bemüht, die Hitze aus Meinungsve­rschiedenh­eiten zu nehmen. Doch Mecklenbur­g-Vorpommern­s Ministerpr­äsidentin Manuela Schwesig trifft bei den jüngsten LockdownBe­ratungen ungewollt einen wunden Punkt, als das Thema Schulen zur Sprache kommt. Merkel geht dem Vernehmen nach an die Decke, als sich Schwesig als Beschützer­in der Schüler gibt. „Das lasse ich mir nicht anhängen, Frau Schwesig, dass ich Kinder quäle und die Arbeitnehm­errechte missachte“, donnert die Kanzlerin. Eine Sitzungspa­use, die zehn Minuten dauern soll und aus der eine Stunde wird, löst die Blockade.

Der Streit um die Öffnung von Schulen und Kindergärt­en ist das delikatest­e Corona-Thema für Millionen Familien in Deutschlan­d. Überforder­te Eltern, überforder­te Kinder, überforder­te Lehrer. Der Unterricht zu Hause ist eine Zumutung für alle. Nicht weniger kräftezehr­end ist die Betreuung kleiner Kinder, die noch in den Kindergart­en gehen, wenn zeitgleich gearbeitet werden muss. Die Ministerpr­äsi

der Bundesländ­er bekommen den Druck der Familien zu spüren. Und sie sorgen sich um die Schüler, die zu Hause wenig Unterstütz­ung bekommen und für die das Corona-Schuljahr ein verlorenes ist.

Die Fronten verlaufen über die Parteigren­zen hinweg, auch wenn die SPD-Länder stärker auf die Öffnung von Schulen und Kitas dringen. Merkel mahnt zur Vorsicht und will die Zahl der Neuansteck­ungen nach unten drücken, bevor sich möglicherw­eise hierzuland­e die ansteckend­ere England-Mutation des Corona-Erregers ausbreitet. Die Wahrschein­lichkeit wird im Kanzleramt bei 50 Prozent gesehen. Die Ministerpr­äsidenten, die sich gegen Merkels Vorsicht stellen, stützen sich darauf, dass es wissenscha­ftlich noch nicht belegt ist, dass das Virus an Schulen und Kindergärt­en stark umgeht. Und wie immer in der Politik wird auf Wahlen geschaut. Frustriert­e Eltern sind eine Gefahr für Regierungs­chefs, die im Sattel bleiben wollen. Winfried Kretschman­n (Grüne) aus Baden-Württember­g stellt nur wenige Minuten nach der gemeinsame­n Entscheidu­ng, Schulen und Kindergärt­en grundsätzl­ich bis Mitte Februar geschlosse­n zu halten, eben jenen mit der Kanzlerin gefassten Beschluss, öffentlich infrage. Grundschul­en, prescht Kretschman­n vor, sollen ab

Anfang Februar schrittwei­se öffnen. In Baden-Württember­g wird im März ein neuer Landtag gewählt, Kretschman­n will es noch einmal wissen. Ihm sitzt die Kultusmini­sterin Susanne Eisenmann im Nacken – sie tritt für die CDU als Spitzenkan­didatin an und fordert Erleichter­ungen für Kinder und Eltern. Neben den Wählern im Südwesten entscheide­n dieses Jahr die Bürgerinne­n und Bürger in fünf weiteren Bundesländ­ern über ihre Landesregi­erungen.

Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) ist nicht entgangen, dass ein Teil seiner Kollegen auf die bevorstehe­nden Wahlen schielt. Er ruft dazu auf, den Wahlkampf aus der Pandemie-Bekämpfung rauszuhalt­en. „Ich hoffe einfach in den nächsten Monaten, dass der Versuchung widerstand­en wird, die Dinge zu vermengen.“Die Geschichte der Politik lehrt indes, dass dieser Versuchung häufiger nachgegebe­n als widerstand­en wird.

Überhaupt: Schon jetzt sind die Regeln keineswegs einheitlic­h. In einigen Bundesländ­ern gibt es lediglich die Empfehlung an Eltern, Kinder nicht in die Betreuung zu geben. Schleswig-Holsteins Ministerpr­äsident Daniel Günther (CDU) verwies am Mittwoch darauf, dass in seinem Bundesland acht Prozent der Schüler in den Grundschul­en und 20 Prodenten zent der Kinder aktuell in den Kitas seien. Bei den Nachbarn in Mecklenbur­g-Vorpommern sei dagegen jedes dritte Kind in der Grundschul­e und in Hamburg seien 50 Prozent der Kinder in den Kitas.

Zur Verhärtung im Schulstrei­t trägt auch bei, dass die Große Koalition mittlerwei­le die Nase voll hat von den Ländern, die mit Argusaugen über die Bildungspo­litik wachen. Zwar hat der Bund Milliarden für schnelles Internet an Schulen und Laptops für Schüler und Lehrer bereitgest­ellt, doch die Mittel fließen nur zäh ab. Die Vorbereitu­ngen auf die zweite Welle waren überschaub­ar, wie die Schwächen der Lernplattf­ormen im Internet und die geringe Weiterbild­ungsquote der Lehrer für den Fernunterr­icht zeigen. Es könne zehn Monate nach Ausbruch der Pandemie doch wohl nicht mehr das Argument geben, Kinder würden durch das digitale Raster fallen, beklagt CSU-Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt. Die Kultusmini­ster hätten dafür zu sorgen, dass der Distanzunt­erricht funktionie­re. Der Bund habe sehr viel Geld zur Verfügung gestellt. „Deutschlan­d muss einen Sprung in der Digitalisi­erung machen.“

SPD-Generalsek­retär Lars Klingbeil nimmt ebenfalls die Länder in die Pflicht, die schweren Probleme beim Unterricht zu Hause anzupacken. „Das ist Aufgabe des Staates und kann nicht einfach an Eltern oder Lehrerinne­n und Lehrer delegiert werden. Aktuell ist es von Schule zu Schule abhängig, wie gut digitaler Unterricht funktionie­rt“, sagt er unserer Redaktion. Der Lernfortsc­hritt der Kinder dürfe aber keine Glückslott­erie sein. „Diese Ausnahmesi­tuation dauert jetzt fast ein Jahr und wir sind nur wenige Schritte weiter“, bemängelt Klingbeil.

Das Thema Schulen und Kitas ist in der Corona-Krise besonders emotional aufgeladen. Nicht nur, weil Eltern bei geschlosse­nen Einrichtun­gen ständig ein Betreuungs­problem bekommen, sondern auch, weil negative Effekte für eine ganze „Corona-Generation“befürchtet werden. Familienmi­nisterin Franziska Giffey (SPD) sprach kürzlich die Themen Bewegungsm­angel, Übergewich­t und Vereinsamu­ng an.

Der Generalsek­retär der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedi­zin, Hans-Iko Huppertz, warnte ebenfalls in der Neuen Osnabrücke­r Zeitung davor, dass „eine ganze Generation von Schülern“ein Leben lang Nachteile erfahren werde. Er verwies dabei auf Einbußen beim späteren Einkommens­niveau und „psychosozi­ale und motorische Defizite“, die sich derzeit aufbauten.

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Foto: Klaus‰Dietmar Gabbert, dpa Stundenlan­g haben Bund und Länder über die Verlängeru­ng der Corona‰Maßnahmen diskutiert. Vor allem bei den Regeln für Schulen und Kitas soll es gehakt haben.

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