KlassenKampf
Die Frage nach dem Umgang mit den Schulen entzweit Bundesregierung und Ministerpräsidenten. Sollen die Bildungsstätten und die Kitas geschlossen bleiben oder öffnen? Sogar die Kanzlerin wird richtig wütend
Berlin/München Es kommt selten vor, dass Angela Merkel die Beherrschung verliert. Die Kanzlerin agiert wohltemperiert und ist stets bemüht, die Hitze aus Meinungsverschiedenheiten zu nehmen. Doch Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig trifft bei den jüngsten LockdownBeratungen ungewollt einen wunden Punkt, als das Thema Schulen zur Sprache kommt. Merkel geht dem Vernehmen nach an die Decke, als sich Schwesig als Beschützerin der Schüler gibt. „Das lasse ich mir nicht anhängen, Frau Schwesig, dass ich Kinder quäle und die Arbeitnehmerrechte missachte“, donnert die Kanzlerin. Eine Sitzungspause, die zehn Minuten dauern soll und aus der eine Stunde wird, löst die Blockade.
Der Streit um die Öffnung von Schulen und Kindergärten ist das delikateste Corona-Thema für Millionen Familien in Deutschland. Überforderte Eltern, überforderte Kinder, überforderte Lehrer. Der Unterricht zu Hause ist eine Zumutung für alle. Nicht weniger kräftezehrend ist die Betreuung kleiner Kinder, die noch in den Kindergarten gehen, wenn zeitgleich gearbeitet werden muss. Die Ministerpräsi
der Bundesländer bekommen den Druck der Familien zu spüren. Und sie sorgen sich um die Schüler, die zu Hause wenig Unterstützung bekommen und für die das Corona-Schuljahr ein verlorenes ist.
Die Fronten verlaufen über die Parteigrenzen hinweg, auch wenn die SPD-Länder stärker auf die Öffnung von Schulen und Kitas dringen. Merkel mahnt zur Vorsicht und will die Zahl der Neuansteckungen nach unten drücken, bevor sich möglicherweise hierzulande die ansteckendere England-Mutation des Corona-Erregers ausbreitet. Die Wahrscheinlichkeit wird im Kanzleramt bei 50 Prozent gesehen. Die Ministerpräsidenten, die sich gegen Merkels Vorsicht stellen, stützen sich darauf, dass es wissenschaftlich noch nicht belegt ist, dass das Virus an Schulen und Kindergärten stark umgeht. Und wie immer in der Politik wird auf Wahlen geschaut. Frustrierte Eltern sind eine Gefahr für Regierungschefs, die im Sattel bleiben wollen. Winfried Kretschmann (Grüne) aus Baden-Württemberg stellt nur wenige Minuten nach der gemeinsamen Entscheidung, Schulen und Kindergärten grundsätzlich bis Mitte Februar geschlossen zu halten, eben jenen mit der Kanzlerin gefassten Beschluss, öffentlich infrage. Grundschulen, prescht Kretschmann vor, sollen ab
Anfang Februar schrittweise öffnen. In Baden-Württemberg wird im März ein neuer Landtag gewählt, Kretschmann will es noch einmal wissen. Ihm sitzt die Kultusministerin Susanne Eisenmann im Nacken – sie tritt für die CDU als Spitzenkandidatin an und fordert Erleichterungen für Kinder und Eltern. Neben den Wählern im Südwesten entscheiden dieses Jahr die Bürgerinnen und Bürger in fünf weiteren Bundesländern über ihre Landesregierungen.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ist nicht entgangen, dass ein Teil seiner Kollegen auf die bevorstehenden Wahlen schielt. Er ruft dazu auf, den Wahlkampf aus der Pandemie-Bekämpfung rauszuhalten. „Ich hoffe einfach in den nächsten Monaten, dass der Versuchung widerstanden wird, die Dinge zu vermengen.“Die Geschichte der Politik lehrt indes, dass dieser Versuchung häufiger nachgegeben als widerstanden wird.
Überhaupt: Schon jetzt sind die Regeln keineswegs einheitlich. In einigen Bundesländern gibt es lediglich die Empfehlung an Eltern, Kinder nicht in die Betreuung zu geben. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) verwies am Mittwoch darauf, dass in seinem Bundesland acht Prozent der Schüler in den Grundschulen und 20 Prodenten zent der Kinder aktuell in den Kitas seien. Bei den Nachbarn in Mecklenburg-Vorpommern sei dagegen jedes dritte Kind in der Grundschule und in Hamburg seien 50 Prozent der Kinder in den Kitas.
Zur Verhärtung im Schulstreit trägt auch bei, dass die Große Koalition mittlerweile die Nase voll hat von den Ländern, die mit Argusaugen über die Bildungspolitik wachen. Zwar hat der Bund Milliarden für schnelles Internet an Schulen und Laptops für Schüler und Lehrer bereitgestellt, doch die Mittel fließen nur zäh ab. Die Vorbereitungen auf die zweite Welle waren überschaubar, wie die Schwächen der Lernplattformen im Internet und die geringe Weiterbildungsquote der Lehrer für den Fernunterricht zeigen. Es könne zehn Monate nach Ausbruch der Pandemie doch wohl nicht mehr das Argument geben, Kinder würden durch das digitale Raster fallen, beklagt CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Die Kultusminister hätten dafür zu sorgen, dass der Distanzunterricht funktioniere. Der Bund habe sehr viel Geld zur Verfügung gestellt. „Deutschland muss einen Sprung in der Digitalisierung machen.“
SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil nimmt ebenfalls die Länder in die Pflicht, die schweren Probleme beim Unterricht zu Hause anzupacken. „Das ist Aufgabe des Staates und kann nicht einfach an Eltern oder Lehrerinnen und Lehrer delegiert werden. Aktuell ist es von Schule zu Schule abhängig, wie gut digitaler Unterricht funktioniert“, sagt er unserer Redaktion. Der Lernfortschritt der Kinder dürfe aber keine Glückslotterie sein. „Diese Ausnahmesituation dauert jetzt fast ein Jahr und wir sind nur wenige Schritte weiter“, bemängelt Klingbeil.
Das Thema Schulen und Kitas ist in der Corona-Krise besonders emotional aufgeladen. Nicht nur, weil Eltern bei geschlossenen Einrichtungen ständig ein Betreuungsproblem bekommen, sondern auch, weil negative Effekte für eine ganze „Corona-Generation“befürchtet werden. Familienministerin Franziska Giffey (SPD) sprach kürzlich die Themen Bewegungsmangel, Übergewicht und Vereinsamung an.
Der Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, Hans-Iko Huppertz, warnte ebenfalls in der Neuen Osnabrücker Zeitung davor, dass „eine ganze Generation von Schülern“ein Leben lang Nachteile erfahren werde. Er verwies dabei auf Einbußen beim späteren Einkommensniveau und „psychosoziale und motorische Defizite“, die sich derzeit aufbauten.