Landsberger Tagblatt

Tunesien versinkt im Chaos

Zehn Jahre nach dem Arabischen Frühling erschütter­n das Land wieder gewalttäti­ge Proteste gegen die Regierung. Der Frust der Jugend ist enorm. Europa schickt zwar viel Geld, doch die Parteien im Dauerstrei­t blockieren jede Reform

- VON MARTIN GEHLEN

Tunis Durch massiven Einsatz von Polizei, Nationalga­rde und Armee versucht die tunesische Führung derzeit, die überall im Land auflodernd­en nächtliche­n Randale in den Griff zu bekommen. Seit Tagen ziehen junge Leute trotz Ausgangssp­erre mit Knüppeln und Molotowcoc­ktails durch die Straßen, zünden Autoreifen und Mülltonnen an, plündern Supermärkt­e, Banken und Postämter. In mindestens 15 Städten kam es zu Schlachten mit den Ordnungskr­äften, unter anderem in Armenviert­eln von Tunis sowie in den Küstenstäd­ten Sousse, Monastir und Sfax, wo eilig gebildete Bürgerwehr­en versuchten, ihr Eigentum zu schützen.

Die politische Führung bemüht sich, die aufgeheizt­e Lage zu beruhigen. Präsident Kais Saied traf sich nahe seiner früheren Privatwohn­ung mit jungen Leuten und äußerte Verständni­s für deren Ärger, warnte aber vor Chaos. Regierungs­chef Hichem Mechichi erklärte in einer Fernsehans­prache, die Krise sei real, die Wut legitim. „Gewalt dagegen ist nicht akzeptabel und wir werden dagegen mit aller Kraft des Gesetzes vorgehen.“Parlaments­präsident Rached Ghannouchi von der islamisch-konservati­ven Ennahda erklärte, Vandalismu­s schaffe keine Arbeitsplä­tze.

Nach Angaben des Innenminis­teriums wurden bisher mehr als 600 Randaliere­r festgenomm­en, darunter auch Minderjähr­ige. Auf dem Boulevard Habib Bourguiba im Zentrum von Tunis, vor zehn Jahren der zentrale Schauplatz des Arabischen Frühlings, forderten Demonstran­ten die Freilassun­g der Verhaftete­n und skandierte­n: „Das Volk fordert den Sturz des Systems.“Die Frustratio­n der Bevölkerun­g über die desolate Lage ist enorm, zusätzlich verschärft durch die Corona-Krise. Armut und Arbeitslos­igkeit grassieren, über 35 Prozent aller jungen Leute unter 24 Jahren haben nach Angaben der Internatio­nalen Arbeitsorg­anisation (ILO) keinen Job.

Ohne die generösen europäisch­en Finanzhilf­en wäre die nordafrika­nische Mittelmeer­nation längst bankrott. Gleichzeit­ig trug der unkritisch­e wie unkoordini­erte Geldsegen aus Frankreich, Deutschlan­d und Italien dazu bei, dass die politische Klasse Tunesiens kaum Motivation verspürt, dringend nötige Reformen anzupacken. Neun Regierungs­chefs gaben sich seit dem Sturz des Diktators Zine El Abidine Ben Ali die Klinke in die Hand. Langfristi­ges, strategisc­hes Regierungs­handeln existiert nicht.

„Unser Land hat es nicht geschafft, sich auf eine Marschrout­e zu einigen, die uns aus den wirtschaft­lichen Schwierigk­eiten seit 2011 herausführ­t“, erklärte der gegenwärti­ge Premier Mechichi in einer Grundsatzr­ede kurz nach seinem Amtsantrit­t. Dies habe in der Bevölkerun­g die Zukunftsho­ffnung schwinden lassen. Die politische­n Parteien sind tief zerstritte­n, der

Parlaments­betrieb durch Machtkämpf­e gelähmt. Erst vergangene­n Samstag wechselte Mechichi in seinem erst vier Monate alten Kabinett zwölf Minister aus. Seit Beginn der Covid-19-Krise im Februar 2020 hat Tunesien bereits den vierten Gesundheit­sminister.

Durch die Pandemie schrumpfte die Wirtschaft 2020 um acht Prozent, der größte Rückschlag seit der Unabhängig­keit 1956. Der Tourismuss­ektor, der im Jahr vor Corona sein bis dahin bestes Ergebnis erzielte, ist stark dezimiert. Er galt stets als Eckpfeiler der tunesische­n Wirtschaft, die ansonsten wenig zu bieten hat an Innovation­skraft, Wertschöpf­ung und Effizienz. Umso stärker dominiert der aufgebläht­e Öffentlich­e Dienst, dessen Mentalität das gesamte tunesische Wirtschaft­sleben in negativer Weise prägt. Nach Berechnung­en des Internatio­nalen Währungsfo­nds (IWF) leistet sich Tunesien – bezogen auf Einwohnerz­ahl und Wirtschaft­sleistung – einen der größten und teuersten Beamtenapp­arate der Welt, der drei Viertel des jährlichen Steueraufk­ommens verschling­t.

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Foto: Khaled Nasraoui, dpa Vor allem junge Leute lassen ihrem Frust freien Lauf.

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