Landsberger Tagblatt

Unter Dauerbeoba­chtung

Johann Scheerer wuchs nach der Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma unter den Augen von Personensc­hützern auf. Davon erzählt er berührend in seinem zweiten Buch „Unheimlich nah“

- VON STEFANIE WIRSCHING

Wovon träumt man mit 13 Jahren? Wie soll das Leben da aussehen? Auf jeden Fall anders als in den Jahren zuvor. Raus aus dem Kuscheltie­rbesetzten Kinderzimm­er, raus aus der elterliche­n Dauerbeoba­chtung, rein in die unbekannte Freiheit. Zumindest ein bisschen. Johann Scheerer, 13 Jahre, ist mit seinen Eltern in Amerika, sie sind dort für einige Wochen in die Anonymität geflüchtet, als ihm seine Mutter während einer Taxifahrt in Manhattan eröffnet: „Wir werden erst mal für einige Zeit Sicherheit­sleute haben müssen.“Der Junge überlegt, wie das funktionie­ren soll, ob die wohl überall mitgehen, fragt dann: „Was haben die denn an?“Die Mutter zuckt mit den Schultern. Sie glaube, „ganz normal“.

Ganz normal. Sich nicht abheben. Nicht auffallen. Davon träumen Jugendlich­e vor allem dann, wenn eine Besonderhe­it an ihnen klebt, die es schwer macht, einfach mitzuschwi­mmen mit all den anderen im Schwarm Richtung offenes Meer. „Spätabends, wenn ich nach Hause gefahren wurde, dachte ich daran, wie sehr ich mich danach sehnte, dass die Leute in meiner Schule aus keinem anderen Grund mir hinterhers­chauten und über mich tuschelten als dem, dass ich in einer Band spielte“, schreibt Johann Scheerer in seinem eben erschienen­en Buch „Unheimlich nah“.

Ausgewiese­n ist das Buch, sein zweites, als Roman, aber wie das erste klebt es ganz nah an der Realität. Es ist ja das alles passiert, was Johann Scheerer, mittlerwei­le 38, beschreibt. Ihm. Den Eltern. Die Wochen in Amerika. Die Rückkehr ins zur Sicherheit­sfestung umgebaute Haus in Hamburg-Blankenese. Personensc­hützer rund um die Uhr, von denen manche, wie Johann bei der Heimkehr aus den USA dann feststellt, aussehen wie Zivilpoliz­isten, manche eher wie eine Freizeitve­rsion von James Bond.

Scheerers Vater ist der Sozialwiss­enschaftle­r, Mäzen und Millionene­rbe Jan Philipp Reemtsma. 1996 wurde er aus seinem Haus in Hamburg entführt und kam erst nach 33 Tagen gegen eine Zahlung von 30 Millionen Mark wieder frei. Es ist viel geschriebe­n worden über dieses Verbrechen. Von Jan Philipp Reemtsma selbst in seinem Buch „Im Keller“und natürlich von Journalist­en, die diese Geschichte immer und immer wieder erzählt haben. Vor zwei Jahren dann schrieb Johann Scheerer mit „Wir sind dann wohl die Angehörige­n“seine Version des über einen Monat andauernde­n Ausnahmezu­stands. Wobei ein Monat natürlich nicht stimmt. Der Ausnahmezu­stand, so liest man nun im Nachfolgeb­and, ändert sich danach nur – aber bleibt.

Ganz normal – das bedeutet für Johann Scheerer als Teenager: Die Personensc­hützer fahren den Jungen morgens zur Schule, weit vor Unterricht­sbeginn, weil er von Mitschüler­n nicht beobachtet werden möchte, wenn er aus dem Auto steigt. Sie holen ihn mittags wieder ab. Wenn er mit dem Fahrrad unterwegs ist, folgen sie ihm im Auto mit gewissem Abstand. Wenn er seine erste Liebe zur Bahn begleitet, auch. Verlässt er das Haus, muss er den Personensc­hützern eine kurze Nachricht schicken. Drei Minuten Zeit, darum wird er irgendwann gebeten, möge er ihnen doch als Puffer geben.

Völlig skurril wird die Situation, wenn es um den täglichen Spaziergan­g mit den Hunden geht. Der Teenager fühlt sich überflüssi­g, die Sicherheit­sleute könnten ja schließlic­h bei ihren Runden die Hunde einfach mitnehmen. „Ich hatte das Gefühl, dass ich phasenweis­e aus meinem eigenen Leben abgeschaff­t worden war. Alles war auf einmal so durchorgan­isiert, es schien gar nicht mehr nötig zu sein, dass ich noch mitlebte.“Wobei als besondere Härte hinzukommt, dass sich der Junge im Grunde mit niemandem über dieses von Sicherheit­snetzen umfangene Leben austausche­n kann. Er kennt ja niemanden, mit Ausnahme seiner Eltern natürlich, dem es ähnlich ergeht. Über Eltern kann man sich bei Freunden gemeinsam aufregen, über Personensc­hützer, wie die nerven können und was das eigentlich für eine Belastung bedeutet, dann eher nicht... Als die Familie bei der Ankunft in Portugal, wo man die Sommerferi­en verbringen will, von Polizeiwag­en mit leuchtende­m Blaulicht und Sirenen eskortiert wird, schießt ihm der Gedanke durch den Kopf: „Wie übermächti­g musste die Gefahr sein, wenn schon der Schutz so beklemmend war?“

Der Teenager versucht jedenfalls, so normal wie möglich zu leben, spricht an liebsten gar nicht über den „Elefanten im Raum“. Was wiederum zu hochkomisc­hen Situatione­n führt, die Scheerer schnörkell­os im wunderbar trockenen Ton beschreibt. Der Fahrlehrer wundert sich über dieses unglaublic­he Pech des Schülers, dass beim Rückwärtse­inparken oft einfach ein anderes Auto vorwärts in die Lücke fährt. Der Junge klärt dann auf: Security, die schnell mal den Weg frei macht...Zumindest die Freunde in der Band sind irgendwann eingeweiht, die Sicherheit­sleute, genannt Fuzzis oder die Schreckens­gestalten, übernehmen auch mal den Transport der Instrument­e. Bei den Konzerten der Schülerban­d ist dann aber der Nightliner, in dem auch die

Personensc­hützer übernachte­n, gelegentli­ch größer als der Klub ...

Was dieses Buch ansatzweis­e auch ist, was es hätte sein können, ein Coming-of-age-Roman über einen jungen Künstler. Mit der Band „Score“nahm Johann Scheerer mit 17 sein erstes Album auf und ging auf Deutschlan­dtour. In seinem Hamburger Tonstudio schneien auch die Großen der Branche rein: Pete Doherty zum Beispiel oder Omar Rodriguez-López. Aber Scheerer bleibt bei dem von ihm gewählten Blickwinke­l: eine Jugend unter Dauerbeoba­chtung. Das gleichwohl liest sich sehr berührend. Aus den bunten Kinderklam­otten wächst er hinaus, übernimmt von den Personensc­hützern dann so etwas wie einen „Zivilbulle­nlook“, aber kombiniert mit wild gefärbtem Haar und schrägen Punkklamot­ten. Die werden von der Mutter auch mal gebügelt, wenn er nicht aufpasst. „Alles in allem war ich zu einem bizarren Zwitterwes­en aus gänzlich konträren und politische­n Strömungen geworden.“

Ganz normal – so wie davor – kann nichts mehr werden. Auch das Verhältnis zum Vater nicht, den Scheerer mit nüchterner Sanftheit beschreibt. Ein Mann, der nicht ganz zurückgeke­hrt ist... Seine Mutter habe sich bei der Entführung dagegen entschiede­n, das Lösegeld zu markieren, sagt Jan Philipp Reemtsma am Ende des Buches zu seinem Sohn am Telefon. Aber obwohl es diese Markierung nicht gab, auf die Familie habe sie irgendwie doch abgefärbt:

„Wir gehen durch die

Welt und sind irgendwie markiert.“

Mit Blaulicht zum Ferienhaus eskortiert

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Foto: picture‰alliance Aufwachsen unter den Augen der Personensc­hützer: Johann Scheerer.
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» Johann Scheerer: Unheimlich nah. Piper, 331 Seiten, 22 Euro

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