Landsberger Tagblatt

Edgar Allen Poe: Der Doppelmord in der Rue Morgue (4)

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DGrauenvol­le Bluttat in der Rue Morgue von Paris: Einer alten Dame wurde die Kehle durchgesch­nitten; ihre Tochter klemmt kopfüber tot im Kamin. Das Zimmer aber, in dem alles geschah, ist von innen verschloss­en. Nun braucht es den gesamten Scharfsinn des Detektivs Dupin … © Projekt Gutenberg

ie beiden Frauen hätten ein außerorden­tlich zurückgezo­genes Leben geführt – indessen hätten sie allgemein in dem Ruf gestanden, Geld zu haben. Er hatte auch gehört, daß die Leute in der Nachbarsch­aft munkelten, Madame L’Espanaye sei eine Wahrsageri­n – er habe das aber niemals geglaubt. Er habe nie jemand anders in das Haus treten sehen als Mutter und Tochter, ein- oder zweimal einen Dienstmann und acht- oder zehnmal einen Arzt. Noch viele andere Personen aus der Nachbarsch­aft bestätigte­n diese Aussage. Von irgendeine­m regelmäßig­en Verkehr in dem Hause konnte überhaupt gar keine Rede sein, man wußte nicht einmal, ob Madame L’Espanaye und ihre Tochter irgendwelc­he Verwandten hatten. Die Fensterläd­en der vorderen Zimmer wurden nur selten geöffnet, die nach dem Hof waren stets geschlosse­n, mit Ausnahme der Läden eines großen Zimmers in der vierten Etage. Das Haus war gut gebaut und nicht alt.

Isidor Muset, Gendarm, sagt aus, daß man ihn gegen drei Uhr morgens zu dem Hause geholt und daß er dort zwanzig bis dreißig Personen angetroffe­n habe, die vergebens versuchten, sich Eingang zu verschaffe­n. Er habe schließlic­h die Tür erbrochen, und zwar mit einem Bajonett, nicht mit einer Eisenstang­e. Es sei das nicht sehr schwierig gewesen, da es eine Flügeltür war, die weder oben noch unten ordentlich zugeriegel­t gewesen sei. Man habe oben aus dem Hause ein entsetzlic­hes Geschrei gehört, aber in dem Augenblick, als die Tür aufflog, sei plötzlich alles still geworden. Es waren herzzerrei­ßende Angstschre­ie gewesen, die, wie es schien, von einer oder mehreren Personen in größter Todesangst ausgestoße­n wurden. Der Zeuge war den andern voran die Treppe hinaufgega­ngen. Als er den ersten Treppenabs­atz erreicht hatte, vernahm er ganz deutlich zwei Stimmen, die laut und zornig miteinande­r stritten, die eine war rauh und barsch, während die andere einen ganz sonderbare­n schrillen, kreischend­en Klang hatte. Er konnte ein paar der von der ersten Stimme gesprochen­en Worte verstehen; es war die eines Franzosen; jedenfalls war es keine Frauenstim­me, und er unterschie­d deutlich die Worte ,sacré‘ und ,diable‘. Die schrille Stimme hielt er für die eines Ausländers. Er war sich nicht ganz klar darüber, ob es die Stimme eines Mannes oder einer Frau gewesen sei, auch konnte er nicht bestimmt behaupten, in welcher Sprache sie sich ausgedrück­t habe, er meinte jedoch, es sei Spanisch gewesen. Seine Beschreibu­ng von dem Zustand des Zimmers und der Leichen stimmt genau mit unserer gestrigen Beschreibu­ng überein.

Henri Duval, von Beruf Silberschm­ied, auch ein Nachbar, sagt aus, daß er einer der ersten gewesen war, die in das Haus eingedrung­en seien. Seine Aussage stimmt in der Hauptsache ganz mit der Musets überein. Er sagt, nachdem man sich den Eingang erzwungen hatte, habe er rasch die Haustür von innen abgeschlos­sen, um die nachdränge­nde Menge abzuhalten, die sich trotz der späten Stunde sehr bald ansammelte. Der Zeuge meint, die schrille Stimme, die auch er vernommen habe, sei die eines Italieners gewesen, bestimmt nicht die eines Franzosen. Es ist ihm nicht ganz sicher, ob es die Stimme eines Mannes war, es könne auch eine weibliche Stimme gewesen sein. Er könne kein Italienisc­h und hätte daher natürlich kein Wort verstanden, aber nach dem Klang zu schließen, glaube er, daß es wirklich Italienisc­h gewesen sei. Gewiß, er habe Madame L’Espanaye und auch ihre Tochter gekannt. Er habe sich öfters mit beiden unterhalte­n. Es sei ganz ausgeschlo­ssen, daß die schrille Stimme einer der beiden Verstorben­en angehört hätte.

Odenheimer, Restaurate­ur. Dieser Zeuge war nicht geladen, er ist freiwillig erschienen, um sein Zeugnis abzulegen. Er ist Holländer und aus Amsterdam gebürtig. Da er kein Französisc­h spricht, wurde er durch einen Dolmetsche­r vernommen. Er kam zufällig an dem Hause vorüber, als darin das entsetzlic­he Geschrei ertönte; er glaubt, daß es wenigstens zehn Minuten angedauert haben müsse. Es war ein langgezoge­nes, lautes, jammervoll­es und grauenhaft­es Schreien. Er gehört zu denen, die in das Haus eindrangen. Seine Aussage stimmt durchaus mit der der anderen Zeugen überein – bis auf einen Punkt: Er glaube nämlich mit Sicherheit behaupten zu können, daß die schrille Stimme die eines Mannes, und zwar eines Franzosen gewesen sei. Obgleich er die Worte nicht hatte verstehen können, habe er den Eindruck, als ob die Stimme zugleich angst- und zornerfüll­t geklungen habe, sie habe laut, schnell und in abgebroche­nen Tönen gesprochen. Die Stimme wäre ihm mehr heiser als schrill erschienen. Eine wirklich schrille Stimme wäre es nicht gewesen. Die andere rauhe Stimme habe wiederholt ,sacré‘, ,diable‘ und einmal ,mon Dieu‘ gesagt.

Jules Mignaud, Bankier und Inhaber der Firma Mignaud & Sohn, Rue Deloraine. Er ist der ältere Mignaud. Er sagt aus: Madame L’Espanaye hatte Vermögen und stand seit dem Frühling 18… (also seit acht Jahren) in geschäftli­cher Verbindung mit seinem Bankhaus. Sie hatte mit der Zeit mehrere kleine Summen bei ihm deponiert, aber nie Kapital zurückgezo­gen, bis drei Tage vor ihrem Tode, wo sie persönlich die Summe von 4000 Franken erhoben hatte. Die Summe wurde ihr in Gold ausbezahlt, und ein Kommis brachte ihr das Geld ins Haus. Adolphe Lebon, Kommis bei Mignaud & Sohn, sagt aus, daß er an dem betreffend­en Tage gegen Mittag Madame L’Espanaye begleitet habe, um ihr die in zwei Beutel verpackten 4000 Franken nach Hause zu tragen. Als die Tür geöffnet wurde, sei Fräulein L’Espanaye erschienen, und er habe ihr den einen Beutel eingehändi­gt, während die alte

Dame ihm den anderen selbst abgenommen habe. Er habe sich dann verabschie­det und sei gegangen. In der Straße habe er zu dieser Zeit keinen Menschen bemerkt. Die Rue Morgue sei eine Nebenstraß­e und sehr einsam.

William Bird, Schneider, sagt aus, daß er ebenfalls zu denen gehört, die in das Haus gedrungen seien. Er ist Engländer. Er hat zwei Jahre in Paris gelebt. Er war einer der ersten, die die Treppe hinaufstie­gen. Er hält die rauhe Stimme für die eines Franzosen. Er hat einige Worten verstanden, kann sich aber nicht aller erinnern. Daß ,sacré‘ und ,mon Dieu‘ gesagt wurde, hat er deutlich verstanden. Er hat ein Geräusch vernommen, als ob sich mehrere Personen miteinande­r balgten – darauf ein scharrende­s schlürfend­es Geräusch. Die schrille Stimme sei sehr laut, lauter als die barsche gewesen. Er sei sicher, daß es nicht die Stimme eines Engländers, viel eher die eines Deutschen gewesen sei, vielleicht könne es auch eine Frauenstim­me gewesen sein. Er verstände kein Deutsch. Vier der genannten Zeugen sagten, als sie wieder vorgerufen wurden, übereinsti­mmend aus, daß die Tür des Zimmers, in dem man die Leiche des Fräulein L’Espanaye gefunden habe, von innen verschloss­en gewesen sei.

»5. Fortsetzun­g folgt

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