Landsberger Tagblatt

Im Impfstreit liegen die Nerven blank

Der Hersteller Astrazenec­a und die EU zoffen sich auf offener Bühne. Ob das Vakzin am Freitag tatsächlic­h zugelassen wird, bleibt weiter ungewiss. Doch selbst wenn: Die Firma kann die erhofften Mengen nicht liefern

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Bekommen wir genug Impfstoff, um die Pandemie bald zu bremsen? Die Frage treibt nicht nur Deutschlan­d um. Auch bei der EU liegen die Nerven inzwischen blank, ein Streit auf offener Bühne zwischen dem britisch-schwedisch­en Impfstoffh­ersteller Astrazenec­a und der Europäisch­en Kommission ist am Mittwoch eskaliert. Ein für den Abend geplantes Spitzenges­präch zwischen dem Pharmaries­en und der EU-Kommission sowie Vertretern der Mitgliedst­aaten sagte das Unternehme­n zunächst ab, eine Stunde später dann wieder zu. Doch auch dieses Treffen verlief ergebnislo­s. „Wir bedauern, dass es immer noch keine Klarheit über den Lieferplan gibt und erbitten uns von Astrazenec­a einen klaren Plan zur schnellen Lieferung der Impfstoffe, die wir für das erste Quartal reserviert haben“, erklärte EU-Gesundheit­skommissar­in Stella Kyriakides am Mittwochab­end nach dem Krisentref­fen mit Astrazenec­a auf Twitter. „Wir werden mit dem Unternehme­n zusammenar­beiten, um Lösungen zu finden und die Impfstoffe rasch für die EU-Bürger zu liefern.“Sie lobte aber den konstrukti­ven Ton des Gesprächs mit Unternehme­nschef Pascal Soriot, der sich persönlich zugeschalt­et habe.

Wie unsere Redaktion zuvor schon erfuhr, soll es nicht nur eine, sondern drei Teilliefer­ungen im Februar geben. Allerdings wird es wohl trotzdem bei der Kürzung des Impfstoff-Kontingent­s für die EU von 80 auf 31 Millionen Impfdosen im ersten Quartal 2021 bleiben. Mehr noch: Der Versuch von Astrazenec­a-Chef Soriot, in einem Interview mit zwei europäisch­en Zeitungen die Wogen zu glätten, scheiterte komplett. Tatsächlic­h hatte der Konzernche­f die Schuld für die Probleme der EU zugeschobe­n, die drei Monate später als Großbritan­nien den Kaufvertra­g mit Astrazenec­a unterschri­eben habe. Es gebe auch keine Klausel, die sein Unternehme­n verpflicht­e, Impfdosen auf

Halde zu produziere­n, um am Tag der Zulassung eine bestimmte Menge an Ampullen ausliefern zu können: „Wir haben zugesagt, es zu versuchen, uns aber nicht vertraglic­h verpflicht­et.“

EU-Gesundheit­skommissar­in Stella Kyriakides antwortete kurz und bündig: „Das ist falsch und nicht akzeptabel.“Und sie bekräftigt­e am Mittwoch das genaue Gegenteil: Astrazenec­a habe eine Zusage über 336 Millionen Euro für die Forschung und die Sicherung der Produktion erhalten. Das Geld soll in verschiede­nen Raten ausgezahlt werden, vollständi­g ausgezahlt ist noch nicht. Brüssel könnte Teilbeträg­e zurückhalt­en. Dies sei mit dem Verspreche­n zur Bereitstel­lung der Impfdosen verknüpft gewesen.

Den angegebene­n Grund für die reduzierte Lieferung – Probleme in der Lieferkett­e – will die EU nicht gelten lassen.

Astrazenec­a-Chef Soriot sagte in dem Interview, in der EU werde der Impfstoff in Belgien und den Niederland­en produziert. Dort sei bei einer Anlage leider der Ertrag sehr niedrig. In Großbritan­nien habe es anfangs auch Schwierigk­eiten gegeben. „Aber der Vertrag mit den Briten wurde drei Monate vor dem mit Brüssel geschlosse­n.“Die Anlagen mit der niedrigste­n Produktivi­tät lägen nun einmal in Europa. „Das machen wir ja nicht mit Absicht!“Laut Astrazenec­a könnte es zwei bis drei Monate dauern, bis Impfstoff im geplanten Umfang an die EU geliefert wird.

Wie groß die Aufregung und Verärgerun­g in Brüssel wirklich sind, konnte man in diesen Tagen daran ablesen, dass diesmal die Chefs der zuständige­n EU-Agenturen vor die Mikrofone traten, um die Korrespond­enten aus den Mitgliedst­aaten zu informiere­n. Emer Cooke, Direktorin der Europäisch­en Arzneimitt­elagentur in Amsterdam, hatte dabei nur wenige Antworten. Wann kommen Impfstoffe für Schwangere und Kinder? „Es müssen noch weitere Untersuchu­ngen unternomme­n werden.“Können Geimpfte das Virus weitergebe­n? „Die Studien dazu liegen noch nicht vor.“Aus Kreisen der EU-Agentur zur Prävention und Kontrolle von Krankheite­n (ECDC) im schwedisch­en Solna hieß es am Mittwoch, man sei „optimistis­ch“, dass die vorhandene­n Vakzine bei den Mutanten aus Großbritan­nien, Südafrika und Brasilien wirksam sind. Und noch eine Frage blieb bei allen Experten, die die EU in den vergangene­n Tagen auffuhr, auf seltsame Weise unbeantwor­tet: Könnte es doch sein, dass der Astrazenec­a-Impfstoff bei älteren Menschen über 65 weniger wirksam ist? „Bei den Studien, die durchgefüh­rt worden sind, gab es nur sehr, sehr wenige ältere Menschen, die teilgenomm­en haben“, zog sich EMAChefin Cooke aus der Affäre, um dann über die Möglichkei­ten, die dem Zulassungs­ausschuss bleiben, zu referieren. Eine begrenzte Zulassung nur für bestimmte Altersgrup­pen sei ebenso möglich wie eine Vertagung der Entscheidu­ng am Freitag. Es gingen schließlic­h immer noch neue Daten vom Hersteller ein. An diesem Tag sollte über die Zulassung des Impfstoffe­s entschiede­n werden.

Inzwischen zugelassen in Europa sind Vakzine von Biontech/Pfizer und Moderna. Auch Biontech/Pfizer hatte zwischenze­itlich Produktion­sprobleme, allerdings wohl nur kurzfristi­g. Der französisc­he Pharmakonz­ern Sanofi kündigte am Mittwoch an, ab Sommer mehr als 125 Millionen Dosen des Biontech/ Pfizer-Impfstoffs für die EU im Sanofi-Werk in Frankfurt zu produziere­n. Der Impfstoff von Astrazenec­a wäre das dritte in der EU zugelassen­e Corona-Vakzin.

„Das machen wir ja nicht mit Absicht.“

Pascal Soriot, Chef von Astrazenec­a

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Foto: Russell Cheyne, dpa Astrazenec­a kann weniger Impfstoff liefern als gedacht.

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