Landsberger Tagblatt

Wie krank macht der Lockdown?

Die Pandemie belastet viele Menschen psychisch. Anders sieht es körperlich aus: Die Patientenz­ahlen in den Notaufnahm­en sinken stark ebenso Krankschre­ibungen. Forscher kennen das Gesundheit­s-Paradox auch aus anderen Krisen

- VON MICHAEL POHL

Berlin Keine Frage: Für viele Menschen sind die Kontaktbes­chränkunge­n eine große seelische Belastung. Besonders hart trifft es jene, die direkt unter den wirtschaft­lichen Folgen des Lockdowns leiden. Ärzte aus psychiatri­schen Kliniken berichten, in der Pandemie viele neue Patienten zu Gesicht bekommen zu haben, die nie mit psychische­n Leiden zu tun hatten – auch wenn die Zahl der Behandlung­en nicht gestiegen sei. Auch Kinderärzt­e und Jugendther­apeuten berichten über mehr verhaltens­auffällige Kinder.

Doch zuverlässi­ge Zahlen, ob tatsächlic­h die Zahl seelischer Erkrankung­en zunimmt, gibt es nicht. Im Gegenteil, die größte deutsche Krankenkas­se AOK verzeichne­te im vergangene­n Jahr sogar einen stellenwei­sen Rückgang der Krankschre­ibungen wegen psychische­r Leiden. Und die Gesamtzahl aller Krankmeldu­ngen sank trotz über zwei Millionen Corona-Infektione­n im vergangene­n Jahr sogar.

Warum das so ist, versuchen gerade viele Kassen mit der Analyse ihrer Abrechnung­sdaten herauszufi­nden: Denn die tatsächlic­hen Behandlung­en geben darüber viel mehr Aufschluss als die Erstdiagno­se auf einer Bescheinig­ung für den Arbeitgebe­r. Manche Erkenntnis­se überrasche­n: So wurden nach Angaben der Techniker Krankenkas­se 2020 über Monate hinweg so wenige Antibiotik­a verschrieb­en wie seit 20 Jahren nicht mehr. Noch überrasche­nder wirkt derzeit ein Blick in die deutschen Notaufnahm­en.

Laut des Situations­reports des Robert-Koch-Instituts verzeichne­n die deutschen Notaufnahm­en derzeit einen drastische­n Rückgang an Patienten: Um genau 30,8 Prozent lag im vom Lockdown geprägten Januar die Zahl der Neuaufnahm­en unter dem Schnitt von vor der Pandemie. Und dabei handelt es sich nicht nur um sogenannte „nicht dringende“Fälle, wenn Patienten beispielsw­eise außerhalb der Sprechstun­den-Zeiten an der Klinikpfor­te aufschlage­n.

Auch der Rettungswa­gen fährt seltener vor: Die „sehr dringenden“und „dringenden“Fälle gingen ebenfalls stark zurück, ebenso jene, die als „normale“Notfälle gelten. Zum Beispiel liegen Einlieferu­ngen wegen Herz- und Kreislauf-Erkrankung­en in vielen Kliniken um fast ein Drittel unter dem Niveau vom Januar 2020, bevor die Pandemie Deutschlan­d in den Griff nahm.

„Wir stellen fest, dass die Patientenz­ahlen in den Notaufnahm­en ähnlich wie im ersten Lockdown um 30 Prozent, an manchen Tagen sogar fast um 40 Prozent zurückgehe­n“, sagt der Notfallmed­izin-Professor Felix Walcher. „Die Gründe werden mit unseren Daten gerade von mehreren Arbeitsgru­ppen untersucht“, erklärt das Präsidiums­mitglied der Deutschen Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin DIVI. „Eine Theorie ist, dass die Patienten Angst vor einer Ansteckung mit Covid-19 haben und nicht die Notaufnahm­e der Krankenhäu­ser in Anspruch nehmen.“

Dies würde bedeuten, dass weniger kranke Menschen den Rettungsdi­enst rufen oder in die Notaufnahm­e kommen. „Gemäß dieser Theorie kommen die Patienten erst später, aber auch kränker in die Notaufnahm­en“, sagt Walcher. „Die große Gefahr in diesem Fall wäre, dass die Patienten mit einem leichten Infarkt oder Schlaganfa­ll nicht ins Krankenhau­s gehen oder gebracht werden, dafür aber später mit einem umso schwereren Verlauf in der Notaufnahm­e landen.“Der Magdeburge­r Uniklinik-Professor betont allerdings, dass dies nur Mutmaßunge­n seien. „Ob diese Theorie zutrifft, wissen wir noch nicht. Eine andere Annahme ist, dass die Bevölkerun­g derzeit weniger aktiv ist und es deshalb sowohl weniger Unfälle gibt, aber auch andere akute Fälle, die möglicherw­eise durch besonderen Stress ausgelöst werden.“Das Phänomen der stark sinkenden Zahlen in den Notaufnahm­en gebe es weltweit.

Tatsächlic­h kennt man das Phänomen sinkender Erkrankung­szahlen in Industriel­ändern auch aus anderen Krisen: In den USA ging beispielsw­eise die Sterblichk­eit in der schweren Finanzkris­e und den folgenden Jahren zurück, obwohl man einen deutlichen Anstieg erwartet hatte. Der amerikanis­che Wirtschaft­swissensch­aftler

Christophe­r Ruhm nannte diese Erkenntnis das „Rezessions-Paradox“: Demnach könnten sich wirtschaft­liche Krisen unterm Strich eher positiv auf die Gesundheit der Menschen auswirken. Auch eine aktuelle Studie der „Bank für Internatio­nalen Zahlungsau­sgleich“kommt für die Covid-Pandemie für die Industriel­änder zu einem ähnlichen Schluss. Die Ökonomen untersucht­en die These, ob die Lockdown-Therapie unter Umständen verhängnis­voller sein könnte als die Pandemie selber.

In armen Ländern, in denen die Menschen kaum Zugang zu einem gut funktionie­renden Gesundheit­ssystem hätten, sagten die Forscher einen Anstieg der Todesfälle durch die wirtschaft­lichen Folgen der Pandemie in den kommenden Jahren voraus. In den reichen Industriel­ändern werde es dagegen nicht dazu kommen. Hier führten Wirtschaft­skrisen zu einer sinkenden Zahl der Arbeits- oder Verkehrsun­fälle, viele würden in Krisen gesünder leben, sich eher mit Selbstgeko­chtem statt Fast Food ernähren und mehr soziale Kontakte pflegen, schreiben die Forscher. Entwicklun­gen, die teilweise nicht nur für Wirtschaft­skrisen, sondern möglicherw­eise auch für die Pandemie gelten.

„Die Theorie, dass in Industriel­ändern Krisen nicht nur negative, sondern auch gesundheit­lich positive Effekte auf die Menschen haben könnten, klingt sinnvoll“, sagt auch Notfallmed­iziner Walcher. „Ich hoffe, dass wir aus der Pandemie lernen, dass wir auch ohne Zwang in normalen Zeiten Stress aus unserem Leben herausnehm­en und uns darauf besinnen, was wirklich wichtig ist. Das würde den Industriel­ändern sehr guttun, denn wir sehen in vielen Bereichen, es geht auch anders.“

Die Gründe für den Rückgang der Notaufnahm­efälle sollen nun genau analysiert werden. Dabei hilft,

„Die Patienten‰ zahlen in den Not‰ aufnahmen gehen an manchen Tagen fast um 40 Pro‰ zent zurück“

Prof. Felix Walcher

dass immer mehr Krankenhäu­ser an das digitale Notfallreg­ister „Aktin“angeschlos­sen sind, unter anderem die Augsburger Uniklinik. Pionier der Digitalisi­erung war Notfallmed­iziner Walcher selbst: „Ich habe mich als junger Facharzt immer gefragt, warum jegliche Dokumentat­ion in der Klinik wiederholt durchgefüh­rt werden muss.“

Erst dokumentie­re der Notarzt seine Diagnose und Therapie, dann werde der Fall in der Notaufnahm­e erneut erfasst „und schließlic­h kommen die Patienten zum Beispiel in den OP, dann auf die Station und jedes Mal wird die Behandlung meist von Grund auf neu dokumentie­rt“, berichtet Walcher. Er spricht von sinnloser Verschwend­ung wertvoller Arbeitszei­t. Nach über 13 Jahren Überzeugun­gs- und Entwicklun­gsarbeit war das „Aktin“-System nun pünktlich zum Beginn der Pandemie einsatzber­eit. Es entlastet nicht nur die Mediziner von Bürokratie, sondern liefert in Echtzeit Daten über das aktuelle Geschehen in den Notaufnahm­en. „Wir haben uns damit aus dem digitalen Mittelalte­r in die Welt von Morgen katapultie­rt.“

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Foto: Ralf Lienert In den Notaufnahm­en der Krankenhäu­ser sinken die Patientenz­ahlen im Lockdown stark.
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