Landsberger Tagblatt

„Wir haben nicht nur Fehler gemacht“

Nach Versäumnis­sen im Kampf gegen Corona richtet EU-Gesundheit­skommissar­in Stella Kyriakides den Blick nach vorn. Die Zulassung für Medikament­e und Vakzine gegen Mutanten soll beschleuni­gt werden. Sie warnt vor Fake-Impfstoffe­n

- Interview: Detlef Drewes

Der Grünen-Politiker Joschka Fischer wurde einst in Hessen als Turnschuh-Minister bekannt – mit rosa Sportschuh­en machte auch Stella Kyriakides Schlagzeil­en. Seit sich die aus Zypern stammende EUGesundhe­itskommiss­arin im Herbst – mitten im Ringen um CoronaImpf­stoffe – auf sonnigem Balkon gemütlich ins Wochenende postete, hat sie den Spitznamen „Füßehoch-Kommissari­n“weg. Und der Instagram-Post brachte ihr auch reichlich Kritik ein. Kein Wunder, dass sie auf Vorne-Verteidigu­ng umgestellt hat – und beim Interview die erste Frage gar nicht abwarten konnte ...

Stella Kyriakides: Bitte erlauben Sie mir, bevor Sie die erste Frage stellen, mein Mitgefühl für die Leser Ihrer Zeitung auszudrück­en, die mit dem Coronaviru­s infiziert waren, deren Angehörige erkrankten, die im Krankenhau­s gegen das Virus kämpfen oder die gar einen lieben Mitmensche­n verloren haben. Und ich möchte auch meinen tiefen Dank denen unter Ihren Lesern ausdrücken, die in Klinken, Pflege- oder Altenheime­n für andere da sind.

Vielen Dank. Was können Sie denn allen anderen sagen? Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen hat Fehler und Versäumnis­se bei der Bestellung und Lieferung von Impfstoffe­n eingestand­en. Was wird die EU jetzt tun, um besser zu werden? Kyriakides: Der aktuelle Status ist so: Bis zum Ende des ersten Quartals werden insgesamt 100 Millionen Dosen ausgeliefe­rt. Für das zweite Quartal sehen die Zahlen viel besser aus und wir erwarten, dass von den drei derzeit zugelassen­en Impfstoffe­n mindestens 300 Millionen Dosen ausgeliefe­rt werden, wenn die Verträge eingehalte­n werden. Diese Zahl könnte sich sogar noch erhöhen, wenn der Impfstoff von Johnson & Johnson hinzukommt. Und für das dritte Quartal sollten wir weitere 300 Millionen von BiontechPf­izer und Moderna haben, was bedeutet, dass wir, auch wenn wir jetzt noch nicht wissen, wie die Situation bei AstraZenec­a sein wird, bis Ende September mindestens 700 Millionen Impfstoffe haben sollten, was mehr als genug für 70 Prozent der EU-Bevölkerun­g ist. Wir haben trotz aller Hinderniss­e keine Zeit vergeudet.

Trotzdem werden Sie ja nicht zufrieden sein …

Kyriakides: Das bin ich auch nicht. Aber ich habe manchmal das Gefühl, dass wir vergessen, vor welcher Herausford­erung wir stehen. Wir stehen einer Pandemie entgegen, wie wir sie noch nie zu bewältigen hatten. Vor zehn Monaten hat niemand geglaubt, dass so schnell wirksame und sichere Impfstoffe entwickelt würden und für den Bürger zur Verfügung stehen. Es ist also falsch, zu behaupten, dass wir nur Fehler gemacht hätten. Ohne die EU hätten die Bürger in allen 27 Mitgliedss­taaten unabhängig von der Größe und der Wirtschaft­skraft wahrschein­lich keinen Zugang zu Vakzinen bekomme. Die europäisch­e Impfstrate­gie ist ein Erfolg.

Dennoch gab es Probleme. Beispielsw­eise wurde die Dauer des Zulassungs­verfahrens kritisiert. Was wollen Sie da besser machen?

Kyriakides: Das ist ein gutes Beispiel. Wir haben uns zusammen mit der Europäisch­en Arzneimitt­el-Agentur den Ablauf angesehen. Und wir haben nun entschiede­n, dass ein Impfstoff, der vom Hersteller auf der Basis des bisherigen Vakzins zur Bekämpfung neuer Mutationen nachgebess­ert wurde, nicht mehr den ganzen Zulassungs­prozess durchlaufe­n muss. Es wird also schneller gehen, geeignete Impfstoffe verfügbar zu haben, ohne bei der Sicherheit Abstriche zu machen.

Sie könnten sich wieder verrechnen. Johnson & Johnson will den Impfstoff, der in Europa produziert wird, in den

USA abfüllen lassen. Glauben Sie, dass Washington die Ausfuhr des fertigen Vakzins nach Europa erlaubt? Kyriakides: Bisher hat Johnson & Johnson den Antrag auf Zulassung bei der EMA noch nicht eingereich­t. Wenn das Unternehme­n dies innerhalb des Februars tut, erwarten wir eine baldige Bewertung der EMA. Wir werden uns das natürlich ansehen. Aber im Moment warten wir auf die Einreichun­g für die Zulassung – und das wird natürlich alles berücksich­tigt werden.

Es werden nicht nur Impfstoffe, sondern auch Medikament­e für Erkrankte gebraucht.

Kyriakides: Parallel zum ImpfstoffM­anagement treiben wir mit den Hersteller­n die Entwicklun­g von geeigneten Arzneimitt­eln voran. Ich kann Ihnen keinen genauen Zeitpunkt sagen, wann genügend zur Verfügung steht. Aber das Thema hat eine hohe Priorität für uns.

An diesem Wochenende sind zwischen Deutschlan­d und dem österreich­ischen Bundesland Tirol strenge Grenzkontr­ollen eingeführt worden. Stehen wir vor einer neuen Welle von Grenzschli­eßungen?

Kyriakides: Die Furcht vor den Mutationen des Coronaviru­s ist verständli­ch. Aber trotzdem gilt die Wahrheit, dass sich das Virus nicht von geschlosse­nen Grenzen aufhalten lässt. Gegen die Mutationen helfen nur konsequent­es Impfen sowie die Einhaltung der Hygienereg­eln. Ich halte es für falsch, dass wir wieder zu einem Europa mit geschlosse­nen Grenzen wie im März 2020 zurückkehr­en.

Wird in der EU gezielt genug nach den neuen Mutanten geforscht? Kyriakides: Nein. Deutschlan­d und einige andere bemühen sich inzwischen, die Sequenzier­ung voranzutre­iben und die EU wird sie dabei unterstütz­en. Aber da brauchen wir noch viel mehr Anstrengun­gen von allen Mitgliedss­taaten, um die Ausbreitun­g der Mutanten zu kennen und bekämpfen zu können. Tun wir es nicht, stehen wir diesem Problem blind gegenüber.

Wann werden wir wissen, ob Geimpfte das Virus weitergebe­n?

Kyriakides: Das ist eine der wichtigste­n Fragen, die die Wissenscha­ftler schnellstm­öglich beantworte­n müssen. Die Europäisch­e Kommission und die Europäisch­e Arzneimitt­elAgentur warten wirklich jeden Tag darauf, dass uns die Forscher darauf eine verlässlic­he Antwort geben können.

Stimmt es, dass die EU-Kommission so etwas wie einen europäisch­en Impfpass entwickelt, damit Geimpfte schneller ihre Rechte zurückbeko­mmen, reisen und sich freier bewegen können? Kyriakides: Es geht nicht um einen Impfpass, sondern um ein Impfzertif­ikat. Der Unterschie­d besteht darin, dass das Papier, an das wir denken, alle Daten rund um die Impfung beinhaltet. Das erlaubt nicht nur eine differenzi­erte Nachbetreu­ung, egal wo diese dann später stattfinde­t. Es gibt uns auch einen Einblick in die Entwicklun­g des Virus sowie möglicher Nebenwirku­ngen, die sich erst mit Verzögerun­g einstellen. Es geht also um ein medizinisc­hes Zertifikat. Ein Impfpass müsste dagegen global entwickelt werden. Dazu gibt es Gespräche mit der Weltgesund­heitsorgan­isation. Wenn das Zertifikat ausgeweite­t werden soll, müssten dies die EUStaatsun­d -Regierungs­chefs entscheide­n.

Es gibt Gerüchte über einen Schwarzmar­kt für Impfstoffe. Beunruhigt Sie das?

Kyriakides: Die Mitgliedss­taaten tauschen mit der EU-Kommission alle Erkenntnis­se aus und würden, falls sich das bewahrheit­et, dagegen vorgehen. Wichtig ist, dass die Gefahr von Fake-Produkten ernst genommen wird. Ich kann deshalb nur an alle Mediziner und Bürger appelliere­n, gerade bei neuen Medikament­en und Impfstoffe­n ausschließ­lich die Produkte zu nutzen, die über die offizielle­n Kanäle zu ihnen kommen. Die Bürger sollten sich vor Fake News ebenso hüten wie vor Fake-Impfstoffe­n, die sie in trügerisch­er Sicherheit wiegen.

Wo werden wir heute in einem Jahr stehen? Ist die Pandemie dann überwunden?

Kyriakides: Solche Prognosen sind nicht möglich. Vor einem Jahr hat niemand geahnt, wo wir jetzt sind. Ich will dazu nur eines sagen: Wir arbeiten wirklich an sieben Tagen 24 Stunden daran, die Lage in den Griff zu bekommen und die Menschen mit ausreichen­dem Impfstoff und Medikament­en zu versorgen.

● Stella Kyriakides, 64, stammt aus Nikosia (Zypern) und gehört der EU‰Kommission seit Dezember 2019 an. Die Christdemo­kratin ist im Team von Präsidenti­n Ursula von der Leyen für Gesundheit und Ver‰ brauchersc­hutz zuständig. Die Ent‰ wicklung von Strategien gegen Krebs ist eines der Hauptanlie­gen.

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Foto: Imago Images Stella Kyriakides ist im Team von EU‰Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen für Gesundheit zuständig und steht wegen der schleppend­en Impfstoff‰Bestellung in der Kritik.

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