Landsberger Tagblatt

„Es ist unerträgli­ch“

Die Zahl antisemiti­scher Vorfälle und Übergriffe in Bayern hat deutlich zugenommen. Ein neues Phänomen ist, dass sich Corona-Leugner und Impfgegner als Opfer inszeniere­n und sich mit der Lage der Juden in der NS-Zeit vergleiche­n

- VON MARIA HEINRICH

München Marian Offman will sich nicht unterkrieg­en lassen. Nicht wegschauen oder schweigen bei antisemiti­schen Plakaten oder judenfeind­lichen Sprüchen. „Die Rechten wissen genau, wer ich bin“, sagt er. „Aber ich lasse mir von den Nazis keine Angst machen.“Offman saß 18 Jahre im Münchner Stadtrat, viele kennen ihn und wüssten, dass er Jude sei, sagt er. „Ich bin immer offensiv mit meiner Religion umgegangen. Doch ich weiß auch, dass sich viele Juden das angesichts von antisemiti­schen Übergriffe­n gar nicht mehr trauen.“

Solche Vorfälle, von denen Marian Offman spricht, haben in den vergangene­n Jahren über die bayerische Landesgren­ze hinweg großes Aufsehen erregt. Zum Beispiel im August 2019: Als ein Vater mit seinen beiden Söhnen in München eine Synagoge verlässt, werden die drei von Fremden auf offener Straße beleidigt und bespuckt. Im Mai 2020, als ein Rapper aus Nürnberg über Instagram eine Nachricht an einen Juden verschickt, in der er schreibt, er werde mit dessen Mutter „einen Holocaust machen“. Oder im Juli 2020, als ein Rabbiner von vier Männern nach dem Aussteigen aus einer Straßenbah­n verfolgt und belästigt wird.

Das bayerische Landeskrim­inalamt hat zuletzt eine Zunahme von Fällen politisch motivierte­r Kriminalit­ät im Freistaat verzeichne­t. 2018 wurden dort 219 antisemiti­sche Straftaten registrier­t, ein Jahr später waren es 310, die Zahlen für 2020 stehen noch aus. Auch Münchens Oberbürger­meister Dieter Reiter (SPD) kennt diese Statistik. Er sagt gegenüber unserer Redaktion: „In den letzten Jahren beobachten wir eine zunehmende Radikalisi­erung antisemiti­scher und demokratie­feindliche­r Diskurse. Die Hemmschwel­le für offen antisemiti­sche und geschichts­revisionis­tische Äußerungen und Angriffe ist schrittwei­se weiter gesunken. Das ist unerträgli­ch.“Ähnlich sieht es auch Ludwig Spaenle, Antisemiti­smus-Beauftragt­er der Bayerische­n Staatsregi­erung: „Der Anstieg um gut ein Drittel ist für mich erschrecke­nd. Der Antisemiti­smus ist bis in die Mitte der Gesellscha­ft vorgedrung­en.“

Eine Aussage, die Nikolai Schreiter von der Recherche- und Informatio­nsstelle Antisemiti­smus Bayern (RIAS Bayern) – bei der Übergriffe gegen Juden gemeldet werden können – nicht weit genug geht: „Ich würde sagen, der Antisemiti­smus war nie weg aus der Mitte der RIAS Bayern gibt es seit dem Jahr 2019, daher kann Schreiter selbst nicht einschätze­n, ob mehr Vorfälle gemeldet wurden als in den Jahren zuvor. Doch Schreiter selbst kennt viele Juden, die sich aus Angst vor Beleidigun­gen und Übergriffe­n in der Öffentlich­keit nicht als jüdisch zu erkennen geben wollen. „Als Jude muss man heutzutage einfach mit so etwas rechnen. In unserem aktuellen gesellscha­ftlichen Klima kann man sich als Jude nie sicher sein.“

Wenn sich Betroffene mit ihren Erlebnisse­n an RIAS wenden, berichten sie, wie schlimm es für sie war, privat, aber auch öffentlich angegangen oder beleidigt zu werden. Fast genauso schlimm sei für viele aber, dass sie in den seltensten Fällen Hilfe oder Unterstütz­ung aus dem Umfeld bekamen, erzählt Schreiter. „Ganz oft bleiben die umstehende­n Menschen einfach stumm, keiner zeigt sich solidarisc­h

den Betroffene­n, das wiegt für viele fast genauso schwer.“So berichtet es auch ein Mann, der sich im vergangene­n Jahr bei RIAS Bayern meldete: Im Frühjahr war er im Englischen Garten urplötzlic­h von einem fremden Mann angeschrie­n worden: „Ihr jüdischen Schweine seid schuld! Ihr Juden habt das mit dem Corona gemacht! Du jüdischer Dreckskerl!“

Vorfälle wie diese dringen auch ins Büro des Münchner Oberbürger­meisters vor. „Wichtig ist, dass antisemiti­sche Sprüche und Vorfälle im Alltag entschiede­n zurückgewi­esen werden und dass sich Augenzeuge­n solidarisc­h an die Seite der Betroffene­n stellen“, appelliert Reiter. „Es darf nicht sein, dass Juden mitten in München antisemiti­sch beschimpft und beleidigt werden und ihnen niemand unterstütz­end zur Seite springt. Hier brauchen wir dringend mehr Zivilcoura­ge.“

Ein Aufruf, den Schreiter lobensGese­llschaft.“ wert findet – nichtsdest­otrotz bereiten ihm Vorfälle wie der im Englischen Garten Sorgen. „Wir stellen fest, dass sich neuerdings auch Corona-Leugner und Menschen, die an Verschwöru­ngserzählu­ngen glauben, Antisemiti­smus für ihre Zwecke und Ideologien zunutze machen beziehungs­weise antisemiti­sch sind.“Er nennt zwei Beispiele: Einerseits hängen manche Menschen etwa der Theorie an, eine geheime Elite – zum Beispiel eine Gruppe von Juden – hätte das Coronaviru­s in die Welt gesetzt, um alle anderen Menschen zu unterdrück­en und ihnen ihre Rechte zu nehmen. Anderersei­ts würden sich manche Corona-Leugner und Impfgegner selbst als Opfer inszeniere­n, sagt Schreiter. Sie würden sich und ihre eigene Lage mit der der Juden im Nationalso­zialismus vergleiche­n. Manche von ihnen kleben sich zum Beispiel auf Demonstrat­ionen gelbe Davidstern­e mit der Aufschrift „Impfgegmit ner“auf, andere halten Schilder hoch mit „Impfen macht frei“– in Anlehnung an die Phrase der NSKonzentr­ationslage­r „Arbeit macht frei“. „Das ist eine Verharmlos­ung der Schoah“, warnt Nikolai Schreiter eindringli­ch. Schoah ist der hebräische Begriff für Holocaust. Mehr als hundert solcher judenfeind­licher Vorfälle mit Corona-Bezug hat RIAS Bayern 2020 registrier­t. Münchens Oberbürger­meister Reiter schlägt in diesem Zusammenha­ng ebenfalls Alarm: „Antisemiti­smus ist – egal in welchem Gewand – immer ein Angriff auf unsere liberale Gesellscha­ft, auf die Demokratie und die Grundwerte unseres Zusammenle­bens.“

Dass sich nicht nur der Kontext von judenfeind­lichen Vorfällen verschoben hat, sondern antisemiti­sche Übergriffe auch zahlenmäßi­g zugenommen haben, beschäftig­t auch Andreas Franck, Antisemiti­smusbeauft­ragter der Generalsta­atsanwalts­chaft München: „Es treibt mich tatsächlic­h um, dass wir bundesweit etwa seit 2015 einen Anstieg antisemiti­scher Straftaten erleben. Im Jahr 2019 hatten wir in ganz Deutschlan­d mit 2032 Taten den höchsten Stand judenfeind­licher Delikte seit 2001 zu verzeichne­n.“Gegenüber unserer Redaktion will Franck deshalb eines betonen: „In Richtung der jüdischen Community: Die bayerische Justiz steht unmissvers­tändlich auf eurer Seite! Und in Richtung potenziell­er Straftäter: Wir schauen genau hin!“

Auch der ehemalige Münchner Stadtrat Marian Offman will weiterhin genau hinschauen und sagt entschiede­n: „Nazis und Rechte und Corona-Leugner sind unerträgli­ch. Wir Juden dürfen keine Furcht haben. Es darf ihnen niemals gelingen, dass wir uns wieder als Opfer fühlen und uns Angst machen lassen.“

 ?? Symbolfoto: Boris Roessler, dpa ?? Antisemiti­smus und eine Verharmlos­ung der Holocausts: In KZ‰Häftlingsk­leidung und mit dem Schild „Impfen macht frei“, das an das Nazi‰Motto „Arbeit macht frei“erinnert, demonstrie­rt diese Frau gegen die Corona‰Politiker.
Symbolfoto: Boris Roessler, dpa Antisemiti­smus und eine Verharmlos­ung der Holocausts: In KZ‰Häftlingsk­leidung und mit dem Schild „Impfen macht frei“, das an das Nazi‰Motto „Arbeit macht frei“erinnert, demonstrie­rt diese Frau gegen die Corona‰Politiker.

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