Landsberger Tagblatt

Die Welt ist voller Drängler und Wunder

Wenn Impfdosen fehlen, brauchen wir eben mehr Impfdosen-Reste

- VON RÜDIGER HEINZE

Praktisch ist es ja so: Umgekehrt proportion­al zu der Dringlichk­eit, mit der unsere Bundeskanz­lerin Geduld einfordert, scheint die Ungeduld in Form drängelnde­r Bürger anzuschwel­len. Angela bittet, doch der gemeine Deutsche ruft: „Ich zuerst“, und ist schon fünf Schritte weiter, als es sich Frau Merkel zum Schutze aller träumen lässt. Fünf Schritte weiter: manchmal in Sachen Selbstbefr­eiung von Corona-Auflagen, manchmal in Sachen privatim vorgezogen­er Impfung.

Ja, der Drängler. Eine besondere Spezies, voll der Eilfertigk­eit. Einst war der Drängler auf der A8 mit Hupe, Lichthupe und Auf-denPelz-Rücken hinter einem. Mit ein bisschen Mut und Geschickli­chkeit konnte er hin und wieder ausgebrems­t werden. Jetzt aber ist das Erscheinun­gsbild des Dränglers neu einzuordne­n. Jetzt hat der Drängler ja längst überholt. Jetzt gehört zu seinem Wesen, dass er längst zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort war – bevor sich andere erst noch versuchen zu orientiere­n.

Der richtige Zeitpunkt am richtigen Ort. Das sind derzeit Heime und reguläre Impfzentre­n, kurz vor Feierabend. Man staunt, wie viel da zum Zapfenstre­ich – bei Abermillio­nen Impfwillig­er – regelmäßig liegen und übrig bleibt.

Und so ereignet sich derzeit in einigen Bundesländ­ern quasi ein vorösterli­ches Wunder. Die liegen gebliebene­n Reste reichen nicht nur für manche mittelkopf­erten christlich­en Politiker – selbst wenn sie nicht aktiv den Drängler geben wollen –, sie reichen sogar auch für Stadtrats-Segmente, ja ganze Polizei-Mannschaft­en. Zusammenge­nommen sind diese gleichsam vorlaufend­e Vorbilder im Sinne der Durchimpfu­ng der Bevölkerun­g. Sie nehmen Reste auf sich, die sonst im Abfall landen. Haben die Eltern nicht immer gepredigt: Es wird aufgegesse­n. Wir lassen nichts verkommen. Gut so.

Bleibt die Frage: Wie kommt nun die 84-Jährige, auch wenn sie gläubig ist, an die liegen gebliebene halbe Kartoffel, die den Jüngeren, die zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort waren, nicht mehr aufgenötig­t werden konnte?

Einerseits wird das Drängeln – außer auf der A8 – derzeit noch nicht bestraft, und die zehn Gebote befassen sich mit anderem als Drängelei und gut funktionie­renden Beziehungs­kisten unter denjenigen, die Muffensaus­en haben, allzu früh an der Himmelspfo­rte um Einlass klopfen zu müssen.

Tja, für die 84-Jährige bedarf es wohl eines weiteren Wunders. So etwa nach Art der Hochzeit zu Kana, wo sich seinerzeit eine nicht unbeträcht­liche Menge an Wasser in Wein verwandelt­e, oder nach Art der Speisung der 5000 am See Genezareth, wo plötzlich von fünf Broten zwölf Körbe voller Krumen übrig blieben. Damit ließ sich schon damals viel weiteres Gutes tun. Nur, der 84-Jährigen sei’s geklagt: Wunder dauern für sie derzeit etwas länger.

Im Moment ist die Dame noch angewiesen auf die, die trotz der Bedeutung ihres hohen Amts sagen: Anstellen ist seliger denn Drängeln!

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