Landsberger Tagblatt

Der kleinste Karnevalsz­ug der Welt

Wie der 86-jährige Helmut Scherer das Coronaviru­s narrt

- VON ANDREAS FREI

Nennen wir ihn einen Visionär. Im Grunde hat er vor fast 65 Jahren ja nur sinngemäß gesagt: „Ach Gottchen, mach ich halt mein eigenes Ding.“Aber im Lichte der Pandemie hatte seine Idee schon was Prophetisc­hes. Doch der Reihe nach.

Helmut Scherer, Jahrgang 1934, zieht 1956 nach Unna bei Dortmund. Nur einen Tag nach seiner Ankunft ruft er, beeindruck­t von einem Martinsumz­ug am Vortag, einen Karnevalsz­ug ins Leben. Es ist schließlic­h der 11. November. Nun ja, Karnevalsz­ug – der Mann im Narrenkost­üm schiebt ganz allein eine Art Bollerwage­n durch die Straßen, in dem eine selbst gebastelte Puppe sitzt. Weil’s so schön ist, macht er das im Folgejahr wieder und dann wieder und wieder. Mal marschiert eine Gruppe Schüler mit, mal ein Musikverei­n, aber im Kern besteht der Zug nur aus Helmut Scherer und seinem Bollerwage­n. Weshalb er als Vater des „kleinsten Karnevalsz­uges der Welt“gilt. Nun ist Scherer 86 und an Rosenmonta­g natürlich wieder samt Wagen unterwegs gewesen. Warum? Weil coronakonf­ormer als seiner kann ein Karnevalsz­ug gar nicht sein. Nur die Route hat er diesmal geändert, um Menschenau­fläufe zu verhindern. Statt durchs Zentrum ging es gut eine Stunde lang kreuz und quer übers Gelände des Krankenhau­ses, wo er früher arbeitete.

Seine Puppe im Wagen hielt übrigens ein Schild hoch, auf dem stand: „Trotz Lockdown auf die Pauke hau’n“. Den Karnevalsk­ollegen in Köln, Düsseldorf und Co. ist das gleichzeit­ig nur leidlich gelungen, wie auf Panorama zu lesen ist. Dann muss eben Comic-Star Ralf König ran,

Für manchen mag es unerträgli­ch sein, angesichts der aktuellen Mega-Krise über die nächste nachzudenk­en. Doch das ist alternativ­los, wie es Angela Merkel nennt. Das Adjektiv „alternativ­los“gebrauchte die Kanzlerin am 19. Mai 2010 im Bundestag. Damals sagte sie zu den Bemühungen, die wackelnde Eurogemein­schaft zu stabilisie­ren: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“Diese sicher nicht von der Hand zu weisende Einschätzu­ng ließe sich passend zur Sitzung der Eurogruppe so ergänzen: Scheitert Italien, scheitert der Euro und damit Europa.

Daher muss Europa mit Deutschlan­d und Frankreich auf den Vordersitz­en alles daransetze­n, dass die nächste Krise nach der CoronaKris­e nicht ein Euro-Schuldende­saster wird, mit Italien als Ausgangspu­nkt. Bundesbank­präsident

Jens Weidmann, der selbst für den Internatio­nalen Währungsfo­nds Modelle zur Krisenvorh­ersage entwickelt hat, warnt zwar vor solchen Prognosen. Die Wahrschein­lichkeit, dass das nächste Finanzbebe­n von Italien ausgeht, ist aber durchaus gegeben. Das lehrt schon der Blick auf volkswirts­chaftliche Kennziffer­n der hinter Deutschlan­d und Frankreich drittgrößt­en Wirtschaft­smacht der Eurozone: So sitzt das Land auf einem gigantisch­en Schuldenbe­rg von 2,7 Billionen Euro. Und der Monte Pumpo, wie man ihn flapsig nennen könnte, wächst in Corona-Zeiten weiter.

Das Bruttoinla­ndsprodukt ist in Italien als einem besonders durch die Pandemie gebeutelte­n Land im vergangene­n Jahr um 8,8 Prozent eingebroch­en, während es in Deutschlan­d 5,0 Prozent waren. Dabei liegt die Jugendarbe­itslosigke­it in dem südeuropäi­schen Staat bei katastroph­alen rund 30 Prozent und die Industriep­roduktion um 19 Prozent unter dem Wert, als der Euro eingeführt wurde. Weil auch noch die italienisc­hen Banken instabil sind, bleibt nur eine Diagnose:

Der neue italienisc­he Chefarzt Mario Draghi kommt nicht umhin, dem Land eine Radikalkur zu verordnen, um nach Corona die Wirtschaft­skraft deutlich aufzupäppe­ln. Damit müsste er die ökonomisch­en Selbstheil­ungskräfte aktivieren, etwa indem der verkrustet­e Arbeitsmar­kt aufgebroch­en wird, die ineffizien­te Verwaltung eine Frischzell­enkur erfährt und zumindest ein Plan aufgelegt wird, wie der Monte Pumpo unter die ZweiBillio­nen-Grenze gedrückt wird.

All diese alternativ­losen Schritte wären auch im heimischen Interesse. Denn Italien und Deutschlan­d bilden eine ökonomisch­e Schicksals­gemeinscha­ft, sind wir doch für das Land bei weitem der wichtigste Handelspar­tner und Italien rangiert für uns hier auf Platz fünf. Deutschlan­d ist also zur Solidaritä­t mit Italien verdammt. Denn viele

Unternehme­n beider Länder, etwa aus dem Maschinen- und Fahrzeugba­u, sind innig verbunden. Umso ernster wiegt es, dass Italien für 21 Prozent der Gesamtvers­chuldung der EU-Staaten steht, während das bei Griechenla­nd nur 2,8 Prozent ausmacht. Das maßgeblich­e Europroble­m liegt nicht in Athen, sondern in Rom. Dort trägt mit „Super-Mario“ein Mann die Verantwort­ung, der keine finanziell­en Hemmungen kennt, um ein System abzusicher­n. Als Chef der Europäisch­en Zentralban­k hat er exzessiv Staatsanle­ihen kaufen lassen, damit unbelehrba­re Haushaltss­ünder wie sein Heimatland weiter munter den Monte Pumpo nach oben schichten können.

Draghi ist kein Reformer, sondern ein Stabilisie­rer – und das um jeden Preis. Er wird seinem Land wie zuvor der Eurozone Zeit erkaufen. Das ist besser als nichts, löst aber kaum das zentrale Problem des Staates. Es sollte einen stutzig machen, wenn ausgerechn­et Oberpopuli­st Silvio Berlusconi Draghi laut feiert: „Er hat den Euro gerettet, er wird auch Italien retten.“

Mario Draghi hat keine finanziell­en Hemmungen

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Foto: Bernd Thissen, dpa Helmut Scherer und sein Wagen am Ro‰ senmontag.
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