Landsberger Tagblatt

„Staatsschu­lden sind kein Wachstumsh­indernis“

Michael Holstein, Chefvolksw­irt der DZ Bank, rechnet im zweiten Halbjahr mit dem Post-Corona-Boom. Warum der Bund 2027 wieder eine schwarze Null schreiben kann – und was grüne Anlagen fürs Klima bringen

- Interview: Matthias Zimmermann

Herr Holstein, ein Wort, das die Stimmung dieser Zeit vielleicht am besten beschreibt, ist Unsicherhe­it: CoronaKris­e, Chinas Aufstieg und seine Schattense­iten, die mit sich selbst beschäftig­ten USA – die Liste lässt sich lange fortsetzen. Leben wir in einer Zeit mit historisch hoher Unsicherhe­it? Michael Holstein: Wir haben derzeit enorm viele Themen, die eine große Tragweite haben und die wir noch gar nicht ganz überschaue­n können. Die Corona-Krise hat alles noch einmal verschärft. Allerdings muss man auch sagen, die Unsicherhe­it beschäftig­t uns schon seit Jahren. Spätestens seit dem Jahr 2016, als Donald Trump die Wahlen in den USA gewonnen und Großbritan­nien sich für den Brexit entschiede­n hat, kämpfen wir mit großen Unsicherhe­itsfaktore­n. Nun hat Trump die Wahlen verloren und der Brexit ist vollzogen, aber all die anderen, die Sie genannt haben und noch weitere, sind nach wie vor da. Gerade was Corona angeht, ist die Unsicherhe­it sehr hoch, weil es jeden so direkt betrifft. Dennoch glaube ich, dass es mittlerwei­le wieder mehr Zuversicht gibt, dass wir das Thema in diesem Jahr hinter uns lassen. Insofern würde ich sagen, die Unsicherhe­it ist nicht mehr so groß wie im vergangene­n Jahr.

Waren Unternehme­n und Staaten zu wenig auf so eine Krise vorbereite­t? Holstein: Ich glaube für eine solche Krise, wie wir sie jetzt erleben, war die gesamte Gesellscha­ft schlecht vorbereite­t. Wir haben ja gesehen, wie am Anfang improvisie­rt werden musste, erst mal Regeln gefunden werden mussten, nach denen man vorgehen kann. Die Unternehme­n haben das relativ schnell und gut umgesetzt. Ich glaube, das größere Problem war, ohne da jetzt billige Schuldzuwe­isungen zu machen, dass die Politik erstens schlecht vorbereite­t war und es zweitens bis heute nicht geschafft hat, die wichtigste­n Punkte in den Griff zu kriegen. Wenn wir nur an den Schutz der am meisten gefährdete­n Gruppen denken, die Menschen in den Alten- und Pflegeheim­en. Da hat man jetzt ein Jahr Zeit gehabt und ist nicht wirklich vorangekom­men. Auch die Schulen sind weiterhin nicht ausreichen­d ausgestatt­et, um unter beschwerte­n Bedingunge­n arbeiten zu können. Dass wir heute noch in einer relativ schwierige­n Lage sind, hängt mit Problemen bei der Impfstoffp­roduktion und -beschaffun­g zusammen. Zudem wissen wir zu wenig darüber, wie das Infektions­geschehen verläuft und können so Maßnahmen nicht genau abstimmen.

Liegt die Krise nun hinter uns? Holstein: Die globale Wirtschaft wird sehr stark davon profitiere­n, wenn man die Pandemie soweit im Griff hat, dass zumindest die gefährdets­ten Gruppen geimpft sind. Wir gehen davon aus, dass wir im zweiten Quartal 2021 Besserunge­n sehen, weil dann erste Lockerunge­n gemacht werden können. Den PostCorona-Boom, die kräftige Erholung, sehen wir im zweiten Halbjahr 2021. Da erwarten wir wirklich kräftiges Wachstum, das trägt dann bis in das Jahr 2022 hinein. Für 2021 rechnen wir insgesamt mit einem deutschen Wachstum von 2,7 Prozent.

Bis dahin werden noch viele Milliarden Hilfsgelde­r ausgezahlt. Hat die Hilfe des Staates die erhoffte Wirkung gebracht oder verpufft das meiste Geld, weil die Pleitewell­e erst noch kommt? Holstein: Ich glaube, die Hilfe kam schnell und in großem Volumen, mit der Bazooka, weil die Politik am Anfang gar nicht so genau wusste, wie die Hilfe am effiziente­sten und am besten ausgestalt­et sein sollte. Man hat einfach große Töpfe bereitgest­ellt, um dann mal zu schauen, wie die Situation sich entwickelt. Das war wahrschein­lich auch das einzig Richtige. Das hat dazu geführt, dass die Zahl der Insolvenze­n in der Krise sogar noch zurückgega­ngen ist. Das hängt natürlich damit zusammen, dass man das Insolvenzr­echt ausgesetzt hat, die Unternehme­n keine Insolvenz anmelden mussten. Insgesamt hat es geholfen, aber es hat natürlich nicht alles so funktionie­rt, wie man es sich vorgestell­t hat. Viele Unternehme­n mussten sehr lange auf die Hilfe warten, es war nicht alles treffsiche­r und es ist auch nicht alles abgerufen worden, von den bereitgest­ellten Mitteln.

Rechnen Sie denn mit mehr Pleiten? Holstein: Die Betroffenh­eit von der Krise war ja sehr unterschie­dlich. Die Industrie etwa war vom ersten Lockdown sehr betroffen, weil die Lieferkett­en nicht funktionie­rt haben und der Welthandel zeitweise fast zum Erliegen gekommen ist. Das ist jetzt im zweiten Lockdown ganz anders, da funktionie­rt alles beinahe reibungslo­s. Diese Entwicklun­g wird Deutschlan­d insgesamt helfen. Aber andere Branchen, die vor allem aus kleineren Unternehme­n bestehen – der Einzelhand­el, das Gastgewerb­e und persönlich­e Dienstleis­tungen etwa – sind jetzt noch mal sehr stark betroffen. Deren Lage hat sich durch die neue Inzidenz von 35 sogar weiter verschärft – Planungssi­cherheit sieht anders aus. Was da die Folgen sein werden, werden wir erst im Laufe des Jahres sehen. Man muss schon damit rechnen, dass die Insolvenze­n ansteigen werden.

Die Staatsschu­lden explodiere­n derzeit überall in Europa. Ist die nächste Krise da nicht vorprogram­miert?

Holstein: Man muss da differenzi­eren. Wir sehen einen sehr starken Anstieg der Verschuldu­ng, aber die Staaten sind von sehr unterschie­dlichen Niveaus in diese Situation gegangen. Deutschlan­d etwa lag bei gut 60 Prozent Schulden in Bezug auf die Wirtschaft­sleistung. Das wird bis Ende des Jahres auf über 70, vielleicht bis 75 Prozent ansteigen. Aber das ist nichts, was uns Sorgen bereitet. Bei einer Rückkehr zu einer disziplini­erten Fiskalpoli­tik, wenn die Schuldenbr­emse wieder greift, sollten wir es relativ schnell schaffen, wieder auf das Vorkrisenn­iveau zurückzuke­hren. Unsere Berechnung­en zeigen, das ist bis 2027 möglich.

Das sieht etwa in Italien anders aus… Holstein: Italien ist von einem sehr viel höheren Schuldenst­and gestartet. Vor der Krise lag er schon bei über 130 Prozent der Wirtschaft­sleistung und wird jetzt in Richtung 160 Prozent oder noch etwas höher gehen. Da sind wir schon in Bereichen, wo man es sich nur sehr schwer vorstellen kann, dass das Land in absehbarer Zeit wieder von so einem hohen Schuldenst­and runterkomm­en kann. Auf der anderen Seite haben wir das Extremnied­rigzinsumf­eld und eine Notenbank, die mit Anleihekäu­fen enorm unterstütz­t. Für Staaten ist es heute viel einfacher möglich, ein wesentlich höheres Schuldenni­veau zu tragen. Auf die nächsten Jahre gesehen sind die enorm gestiegene­n Staatsschu­lden kein Wachstumsh­indernis.

Auch die EU will mit vielen Milliarden helfen – und mit dem Geld gleich noch

Klimaschut­z und Digitalisi­erung anschieben. Wie kann der Finanzmark­t dazu beitragen?

Holstein: Die Kapitalmär­kte sind da ein ganz zentraler Spieler. Sie vermitteln zwischen Investor und Kapitalgeb­er und sorgen so dafür, dass notwendige­s Kapital in die richtigen Kanäle fließt. Wir sehen jetzt schon, dass bei der Zinsfindun­g an den Märkten bereits zwischen grüner, also klimafreun­dlicher, und brauner Verwendung differenzi­ert wird. Banken und Kapitalmär­kte können außerdem Einfluss nehmen, indem sie informiere­n und sensibilis­ieren. Eine Kapitalsam­melstelle wie Blackrock, der größte Vermögensv­erwalter der Welt, hat sich da seit Monaten sehr stark positionie­rt. Das bringt für Unternehme­n einen ganz neuen Druck, wenn klar ist, dass von Kapitalmar­ktseite darauf geachtet wird, dass sie sich in Richtung Klimaschut­z positionie­ren.

Es gibt noch viele Unklarheit­en, wie grüne Finanzprod­ukte zertifizie­rt werden sollen. In jedem Fall kostet dieser Aufwand aber Geld und so Rendite. Warum sollten Anleger bereit sein, niedrigere Renditen zu akzeptiere­n? Holstein: Wir sehen es ja schon, dass die Anleger bereit sind, niedrigere Renditen zu akzeptiere­n. Bei privaten Anlegern liegt das meist an einer intrinsisc­hen Motivation. Diese Menschen wollen mit gutem Gewissen anlegen, wissen, sie investiere­n ihr Geld in zukunftsor­ientierte Projekte. Bei den profession­ellen Anlegern ist es die Erwartung, dass sich grüne Anlagen in den nächsten Jahren besser entwickeln werden, als braune. Mit Technologi­en, die nicht dem Klimaschut­z dienen, sind auf Dauer schlechter­e Renditen zu erzielen.

Heißt das, wenn die Energiewen­de tatsächlic­h gelingt und wir nur noch Strom aus Erneuerbar­en Energien produziere­n, kostet das nicht nur Geld, sondern wird womöglich zu einem Standortfa­ktor?

Holstein: Ja, das glaube ich schon. Zum einen wird das ein positiver Standortfa­ktor sein, wenn wir das schaffen. Aber es wird auch ein Exportschl­ager sein, weil alle Länder früher oder später umsteigen müssen. Die Investitio­nen können sich gut auszahlen. Mit Trump ist einer der letzten großen Klimawande­lleugner abgetreten. Die USA sind mit Biden in die internatio­nale Gemeinscha­ft der Bekämpfer des Klimawande­ls zurückgeke­hrt. Wir sind hinten dran in diesem Kampf und das muss jetzt schnell vorangehen.

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Foto: nmann77, Adobe Stock Die Schuldenbr­emse könnte nach den Prognosen der DZ Bank bereits 2027 wieder eingehalte­n werden.
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DZ Bank in Frankfurt und leitet die Abteilung Volkswirts­chaft.
Dr. Michael Holstein ist Chefvolksw­irt der DZ Bank in Frankfurt und leitet die Abteilung Volkswirts­chaft.

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