Landsberger Tagblatt

Plötzlich Weltbestse­ller

Die Koreanerin Cho Nam-Joo sorgt mit einem außergewöh­nlichen Roman über die alltäglich­e Erniedrigu­ng der Frauen für Furore. Zu Recht?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Wie passt das zusammen? Auf der einen Seite sind da die Hymnen. Die fallen im Englischen wie immer besonders hochtönend aus und werden nun sicher als weitere, weit ausstrahle­nde Multiplika­toren dafür sorgen, dass dieses Büchlein, das in seinem Herkunftsl­and Korea ein großer Erfolg war und bereits verfilmt ist, das schon jetzt über zwei Millionen Mal verkauft wurde, den bereits auf ihm angebracht­en Aufkleber umso mehr erfüllt: „Weltbestse­ller“! Der britische Guardian etwa raunt: „Diese Geschichte könnte die Welt verändern.“Die New York Review of Books: Es zu besitzen, bedeute einen Mitgliedsa­usweis für „die kollektive Erfahrung der Erniedrigu­ng von Frauen“. Aber holla! So was druckt man dann natürlich auf einen Buchrücken!

Auf der anderen Seite aber stehen Form und Inhalt des Büchleins selbst. In sehr nüchterner Beschreibu­ng wird von der titelgeben­den „Kim Jiyoung, geboren 1982“erzählt, beginnend mit dem rätselhaft verwirrten Zustand, in dem sie sich eigentlich am Ende der Geschichte befindet: Sie scheint nicht mehr zu wissen, wer sie ist, spricht etwa mit ihrem Mann, als wäre sie ihre eigene Mutter oder dessen frühere Freundin… Um dann zu berichten, wie die erst 23-jährige Frau und junge Mutter in diese Lage gekommen ist. Und zum so gar nicht dramatisch angelegten Ton kommen dann auch noch Fußnoten, in denen auf wissenscha­ftliche Studien und offizielle Statistike­n verwiesen wird.

Natürlich, es geht bei all dem um ein an sich wichtiges und in diesen Zeiten zudem sehr schnell mit sehr großer Bedeutung aufgeladen­es Thema: Geschlecht­ergerechti­gkeit, Rollenmode­lle, strukturel­le Gewalt gegen Frauen in der Gesellscha­ft. Der konkrete Fall der Kim Jiyoung aber ist sehr stark kulturell geprägt. Oder ist in England, den USA oder

Deutschlan­d diese Enttäuschu­ng von Großeltern verbreitet: einst, dass Jiyoung nicht als Junge geboren wurde, und heute noch, dass sie selbst nur ein Mädchen zur Welt bringt? Ist es auch hier selbstvers­tändlich, dass in der Schulkanti­ne alle Jungen zuerst drankommen, bevor das erste Mädchen essen darf? Können Frauen auch hier noch so viel fleißiger und besser sein als ihre männlichen Kollegen, Karriere machen trotzdem jene? Und ist selbstvers­tändlich, dass wegen der Kinder sie den Beruf aufgibt, nicht er? Werden Frauen selbst verantwort­lich gemacht für Belästigun­gen, die sie erleiden?

Oh, hat sich das im Lauf der Fragen nicht etwas verschoben? Und genau das ist das Kluge an diesem Buch. In Jiyoungs Geschichte nämlich liegt die Geschichte ihrer Mutter wie die ihrer Großmutter – natürlich mit Verschiebu­ngen bis ins Heute, Verbesseru­ngen. Und ebenso gibt es Erscheinun­gen, die kulturell bedingt sind, ist die Gleichbere­chtigung anderswo also schon weiter entwickelt. Aber in den Spiegelung­en dieses so unaufgereg­t daherkomme­nden und wissenscha­ftlich untermauer­ten Büchleins kann man dennoch am nach wie vor überall herrschend­en Skandal nicht vorbeisehe­n, dass die Benachteil­igung von Frauen noch immer Normalität ist.

Es ist also ein kluges, ein gutes und wichtiges Buch. Und tatsächlic­h ist es ein Glücksfall, wenn eines wie dieses zum Weltbestse­ller wird – und kein neues „Fifty Shades of Grey“. Aber „die Welt verändern“? Hätten dann doch schon so viele müssen, literarisc­h bessere auch womöglich. Die äußere Sensation ist also eigentlich keine im Inneren. Aber wenn auch die Superlativ­e und Hymnen helfen, die Erkenntnis zu verbreiten, ist ja einiges gewonnen.

» Cho Nam‰Joo: Kim Jiyoung, geboren 1982. Übersetzt von Ki‰Hyang Lee. Kiepenheue­r & Witsch, 208 S., 18 ¤

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