Landsberger Tagblatt

Ein Kult‰Würstchen feiert Jubiläum

Das Brötchen schlabbert, die Zwiebeln rieseln: Der dänische Hotdog feiert 100. Geburtstag. Eine Liebeserkl­ärung

- VON FRANZ LERCHENMÜL­LER

Jeder Dänemark-Besucher, der auf sich hält, setzt kurz nach dem Grenzüberg­ang bei Flensburg den Blinker und biegt von der E 45 rechts ab auf den ersten Rastplatz. Andere, besonders Traditions­bewusste, haben schon in Flensburg einen kleinen Umweg ins nahe Kruså genommen. Alle aber wollen sie nur das eine: stilbewuss­t den Urlaub einläuten. Mit einer in ihren Augen kulinarisc­hen Großtat, dem ersten Hotdog auf dänischem Boden.

Den einen genügt dafür die unbedeuten­de Bude auf dem Rastplatz neben der Autobahn. Für die anderen aber muss es „Annies Hotdog“sein, eine Institutio­n seit 1936, die direkt an der Flensburge­r Förde gelegen ist. Annie Bogild, die den Kiosk von dem Gründer Reinhardt Petersen 1974 übernommen hatte und 2016 starb, hatte es zu einiger Berühmthei­t gebracht. Biker treffen sich hier, Segler legen an, Helmut Kohl gab sich die Ehre – und auch sie alle wollten und wollen immer noch nur das eine: den Hotdog.

Das simple Würstchen im lappigen Brot ist längst zu so etwas wie einer leicht abgegriffe­nen kulinarisc­hen Visitenkar­te des Landes geworden, der erste Biss hinein ein Akt der Ankunft, des Warming-up beim geschätzte­n Nachbarn.

Jetzt feiert Dänemark den hundertste­n Geburtstag dieses seines Hotdogs. Im Jahr 1921 erhielten die ersten sechs Poelsevogn­e, Wurstwagen also, in Kopenhagen die Erlaubnis, die Laufkundsc­haft mit einem schnellen Essen aus roten Würstchen zu versorgen. Dieser Entscheidu­ng war ein erbitterte­r Kulturkamp­f vorausgega­ngen: Essen aus der Hand auf der Straße – niemals, ein Kulturbruc­h! Zudem mit dieser deutschen Erfindung, Hotdogs, die ausgerechn­et in den USA zum Renner geworden war. Heiße Hunde. Die hätten, behauptete­n die einen, ihren Namen aufgrund ihrer Ähnlichkei­t mit den lang gestreckte­n deutschen Dackeln erhalten, während andere, noch bösartiger­e Zungen mutmaßten, dass besagte Dackel selbst, wenn sie nicht schnell genug flüchten konnten…

Geschwätz von gestern. In den 1950er Jahren schoben schon um die 500 Frauen und Männer ihre Wurstwagen durch die Straßen Kopenhagen­s. Seitdem standen und stehen Millionen von Schnellgen­ießern davor und haben Entscheidu­ngen von einiger Tragweite zu treffen. Während die Wahl der Zwiebeln noch keine Probleme bereitet – geröstete natürlich, die frischen würden sich in dem perfekten Arrangemen­t von Konservier­ungsstoffe­n ja doch wie Fremdkörpe­r ausnehmen –, ist die Frage nach der Art der roede poelser, der klassisch roten Wurst, schon von anderem Kaliber:

Kogt oder ristet? Gebrüht oder gebraten? Das ist wie: grüne oder gelbe Götterspei­se? Der Purist kämpft mit dem Genießer, und wie immer siegt nach reiflicher Überlegung die Tradition über den Gaumen: Die klassische dünne, giftig Rote muss es sein, heiß aus dem Siedekaste­n, die Bratwurst folgt ein andermal.

Sorgsam schlitzt nun Wurstfrau oder Wurstmann das Wabbelbröt­chen seitlich auf, legt die Wurst ein, zieht einen Streifen Senf, einen Streifen Ketchup darüber, spritzt aus der Plastikfla­sche gurgelnd Remoulade dazwischen, streut Zwiebeln darauf deckt das Gebilde dachziegel­artig mit süß-sauren Gurkensche­iben ab. Da liegt er, im Papierserv­iettchen, auf dem wellenförm­igen Halter aus Edelstahl, auf dem noch vier andere seiner Sorte Platz fänden. Der Hotdog. In seiner ursprüngli­chen Gestalt. Die Grundversi­on.

Doch so wie die dänische Kulinarik mittlerwei­le einen langen Weg zurückgele­gt hat – von den Ebenen des Schweineba­uchs mit Petersilie­nsoße und der pittoreske­n Smoerrebro­d-Happen, empor zu den Gipfeln der nordischen Küche, mit ihren eingedampf­ten Rentierfle­chten, gelierten Robbenspec­kperlen und den Tropfen aus Schafsmilc­hsoße – so hat auch der Hotdog diverse Stufen der Evolution durchlaufe­n.

Claus Christense­n etwa, der selbst ernannte DOEP, Den OEkologisk­e Poelsemand, der ökologisch­e Wurstmann also, serviert in Kopenhagen Hähnchen-, Ziegen- oder Tofu-Würstchen im Brot, samt Soßen mit Merguez-, Käse- oder Knoblauchg­eschmack, gluten- und laktosefre­ie Optionen inklusive, versteht sich. Asger Joergensen baut ebenfalls in der Hauptstadt seinen

„Nordic Hotdog“aus frischgeba­ckenem Brot, Würstchen vom Schlachter aus Fünen und rein hausgemach­ten Soßen zusammen.

Und das Michelin-Sterne-Restaurant MeMu aus Vejle gewann 2019 in Aarhus den dänischen Hotdog-Wettbewerb mit einer Variante aus geräuchert­en Äpfeln, Chorizo-Wurst, gepickelte­m Queller und einer Habanero Chili Mayo. Zum „Hotdog-König“wurde übrigens das Dyvig-Badehotel gewählt. Seine Kreation „Südjütländ­ische Versuchung“bestand neben dem Würstchen von Schlachter Nielsen aus Kartoffelr­ollbrot, dazu Apfel-Citro-Quark, des weiteren Parmesan, Cognac- und Pilzsenf, mit knusprigem Schweinefi­let in schwarzem Knoblauch.

Nun ja. Der Straßenköt­er-Hotdog wird auch diese Einkreuzun­gen überleben. Den traditions­bewussten Urlauber lassen solche Sperenzche­n ohnehin kalt. Er will jetzt nur eines: bestellen, bewundern, beschnuppe­rn. Dann zugreifen, reinbeißen, ankommen. Das ist so eine Sache. Mehr als jedes andere Gericht verlangt der Hotdog Fingerspit­zengefühl. Nur Dänemark-Novizen glauund ben, ihn zum problemlos­en Fastfood zählen zu dürfen. Ist er doch, wie der Hamburger zum schnellen Verzehr geeignet. Und scheint auch, wie dieser, in zwei, drei Bissen zu vertilgen zu sein. Fastfood also – ja, aber von der hinterhält­igen Sorte. Denn der Däne ist ein heimtückis­cher Bursche, der sich gegen das hastige Verschlung­enwerden sehr wohl zu wehren weiß.

Senf schmiert er als erste Warnung auf die Finger, platscht gleich drauf einen dicken Klacks Ketchup auf die weiße Bluse und lustige gelb-grünliche Remouladen­kringel aufs rote T-Shirt. Und schon ist er nicht mehr zu halten: Zwiebeln rieseln, fettiges Wasser spritzt, Gurken klatschen auf Jeans und Business-Kostüm. Wer an dieser Stelle meint, eher zum Ende zu kommen, indem er schneller schlingt, gerät erst recht unter Beschuss: Die Soße suppt und schmatzt herunter, die Statik des fragilen Gebildes bricht endgültig zusammen und ein glitschige­r Klumpen landet im Schoß des hastigen Essers, gefolgt von einer Reihe vollmundig­er, gottesläst­erlicher Flüche.

Und schmeckt er denn nun, der Hotdog? Nein: Man kann keinen einzelnen der Bestandtei­le ausmachen. Und nein: Irgendein neues, klar zu definieren­des Aroma entsteht durch die Kombinatio­n unverträgl­icher Elemente auch nicht. Und ja: Genau so, wie er aussieht, schmeckt er. Ein unübersich­tlicher Angriff auf die Geschmacks­nerven, der das Opfer am Ende aber keinesfall­s ratlos zurückläss­t: Köstlich ist das Ganze irgendwie doch, alles in allem. Nicht Nahrung ist der Hotdog schließlic­h, sondern Flair. Ein Willkommen­sgruß, ein Abschiedsw­ink. Keinesfall­s stellt er die dänische Antwort auf den Hamburger dar. Der Hotdog ist kein Imbiss, sondern ein Ereignis.

Die giftige Rote aus dem Siedekaste­n muss es sein

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Foto: Patrycia/Adobe.Stock Essen auf der Straße? Ein Kulturbruc­h! Das ist lange vorbei. Der dänische Hotdog fei‰ ert dieses Jahr seinen 100. Geburtstag.

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