Landsberger Tagblatt

Die stille Not pflegender Angehörige­r

Dass Pflegekräf­te in Krankenhäu­sern und Altenheime­n längst am Limit sind, ist bekannt. Doch Bilder aus Familien, in denen schwerst Kranke Tag und Nacht betreut werden, sieht man selten. Schon vor Corona war ihre Lage äußerst angespannt. Jetzt schlagen Exp

- VON DANIELA HUNGBAUR

München Sie spielt Klavier, rauft mit ihrem neunjährig­en Bruder und würde am liebsten sofort in die Schule gehen. Isabella ist ein lebhaftes, fröhliches, intelligen­tes Kind. Doch die Fünfjährig­e hat ein großes Handicap: Ein dicker Schlauch steckt in ihrem Hals, der direkt an ein Beatmungsg­erät führt. Er ist ihr Lebensrett­er. Verheddert er sich und rutscht unbemerkt heraus, weil Isabella mal wieder zu arg herum gesprungen ist oder sich im Schlaf zu oft gedreht hat, kann ihr Gehirn binnen Sekunden schwer geschädigt sein. Im schlimmste­n Fall ist Isabella binnen Sekunden tot.

Das hübsche Mädchen mit den langen dunklen Haaren leidet an einer seltenen Lungenerkr­ankung, die eine ununterbro­chene Sauerstoff­zufuhr nötig macht. Rund um die Uhr muss Isabella beatmet und daher beaufsicht­igt werden. Weil sich keine Intensivki­nderpflege­kräfte finden, tun dies ihre Eltern. Doch sie können so nicht mehr weiter machen ...

Isabellas Familie, die am Rand von München lebt, ist sicher ein besonderer Fall. Doch dass sich Menschen rund um die Uhr um pflegebedü­rftige Angehörige kümmern, ist keine Seltenheit. Im Gegenteil.

Rund 350000 Pflegebedü­rftige werden in Bayern zu Hause versorgt. Nach Angaben des Sozialverb­ands VdK sind das 71 Prozent aller Pflegebedü­rftigen im Freistaat. War die Situation der Pflegenden schon vor Corona äußerst angespannt, „muss man nun den Katastroph­enfall ausrufen“, sagt Ulrike Mascher, Vorsitzend­e des VdK Bayern im Gespräch mit unserer Redaktion. Die Bilder von überforder­ten Pflegekräf­ten in Altenheime­n, deren Lage sich durch Corona noch verschärft hat, kennt man. Die Bilder von überlastet­en Pflegekräf­ten in Kliniken, denen Corona zusätzlich zusetzt, kennt man. „Was wir so gut wie nie sehen, sind Bilder von Familien, in denen Pflegebedü­rftige von ihren Angehörige­n in häuslichem Umfeld versorgt werden. Es ist eine stille, aber große Not.“

Und eine einsame Not. Denn durch Corona fallen die ohnehin wenigen Kontakte, die ohnehin wenigen Hilfsmögli­chkeiten ganz weg. „Bayern hat viel zu wenig Pflegestüt­zpunkte, die pflegende Angehörige beraten, und die wenigen sind vor allem im Norden Bayerns“, sagt Ulrike Mascher. Nicht einmal der Medizinisc­he Dienst komme noch. „Durch Corona konzentrie­rt sich die häusliche Pflege jetzt meist auf eine einzige Person. Und dieser Angehörige, meist sind es Frauen, ist jetzt durch die Pandemie komplett auf sich allein gestellt und noch stärker isoliert als er es vorher schon war“, schildert sie die Situation.

„Seit Corona bin ich komplett vereinsamt“, hat ihr eine Frau erzählt, die ihre demente 91-jährige Mutter pflegt. Schließlic­h gehören Ältere und Menschen mit Vorerkrank­ungen zur gefährdets­ten Gruppe, bei der das Risiko, dass eine Covid-Erkrankung tödlich ausgeht, am höchsten ist. Also versucht man Kontakte zu vermeiden. „Doch die Überforder­ung steigt“, sagt Mascher. „Und damit das Risiko für Konflikte. Eine Dame erzählte mir, dass sie jetzt am Abend ihrem pflegebedü­rftigen Mann eine etwas höhere Dosis Schlafmitt­el gibt, nur um endlich auch einmal durchschla­fen zu können. Ein deutliches Zeichen von totaler Erschöpfun­g.“

Karin Schmid kennt diese Erschöpfun­g nur zu gut. Seit Jahren. Um genau zu sein, seit 33 Jahren. Ihr Sohn Helmut ist mehrfach geistig und körperlich schwer behindert. Von Geburt an. Er ist auf ständige Unterstütz­ung angewiesen. Trotz aller Handicaps ist er ein lebenslust­iger Mann. Doch ohne seine Eltern völlig hilflos. Auch Sprechen kann er nicht. Vor Corona ging Helmut regelmäßig in die Förderstät­te des Fritz-Felsenstei­n-Hauses nach Königsbrun­n bei Augsburg. Das Gruppen-Geschehen, die festen Strukturen sind für ihn elementar. Mit Corona fanden diese Besuche „dank der großen Anstrengun­g der Einrichtun­g“zumindest im Rahmen einer Notbetreuu­ng statt. Positive Corona-Tests im familiären Umfeld zwangen die Schmids jedoch immer wieder in Quarantäne.

Das heißt: Karin und Leonhard Schmid waren rund um die Uhr sieben Tage die Woche mit ihrem pflegebedü­rftigen Sohn alleine. „Da sind sie der Verzweiflu­ng nahe“, sagt die 58-Jährige. „Mir gehen langsam die Kräfte aus.“Dafür wachsen ihre Ängste: Was wird aus ihrem geliebten Sohn, wenn sie plötzlich ins Krankenhau­s muss? Was wird aus ihm, wenn sie stirbt?

Seit Jahren kämpft Karin Schmid für wohnortnah­e Kurzzeitpf­legeplätze für körperlich und geistig behinderte junge Erwachsene. „Es ist haarsträub­end, was ich erlebe. Ich komme mir vor wie auf einem Verschiebe­bahnhof“, sagt sie. „Keiner fühlt sich zuständig, alle Verantwort­lichen drücken sich irgendwie weg.“Dabei bräuchte es nicht viel: Ein freies Wochenende im Monat, um auszuschla­fen, um durchzuatm­en, das würde ihr und ihrem Mann schon genügen. „Aber nicht für den Preis, dass unser Helmut in der Zeit irgendwo in einem Altenheim sitzt.“

Doch Kurzzeitpf­legeplätze sind in Bayern generell ein rares Gut. Das ärgert auch Bayerns VdK-Chefin Ulrike Mascher. „Auch Tagespfleg­eeinrichtu­ngen mussten aufgrund der Pandemie schließen und nur sehr zögerlich wieder auf – wegen der hygienisch­en Anforderun­gen oft nur mit deutlich weniger Plätzen. Für pflegende Angehörige heißt das: Sie arbeiten seit März durch, ohne auch nur einen Tag frei zu haben.“Doch eine Befragung zum Gesundheit­szustand pflegender Angehörige­r gebe es nicht – „vielleicht will man es auch lieber so genau nicht wissen“.

Einer, der seit langem nicht nur die oft elende Situation pflegebedü­rftiger Menschen in Heimen anprangert, sondern auch auf die Not in der häuslichen Pflege aufmerksam macht, ist Claus Fussek. Der Münchner Sozialpäda­goge pflegt mit seinen Geschwiste­rn selbst seine 90-jährige an Demenz erkrankte Mutter. An ihn wenden sich viele in ihrer Verzweiflu­ng. Auch er sagt: „Pflegende Angehörige werden in unserem Land komplett allein gelassen.“Familie Fussek hat sich Hilfe aus dem Ausland geholt – wie viele Familien, die Angehörige pflegen und es nicht mehr schaffen. Eine Dame aus Rumänien hilft, „die wir über eine seriöse Agentur bekommen haben“. Doch nicht immer wird der seriöse Weg gewählt.

80 bis 90 Prozent der ausländisc­hen Betreuungs­personen arbeiten illegal, ist sich der Bundesverb­and für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP) sicher. Seinen Angaben nach arbeiten im Laufe eines Jahres rund 700000 Betreuungs­personen aus Osteuropa, vor allem Frauen, in etwa 300 000 Haushalten. Gerade zu Beginn des ersten Lockdowns im vergangene­n Jahr waren die Sorgen groß, schließlic­h wollen diese Helferinne­n immer wieder in ihre Heimat. Aber die Ein- und Ausreise war coronabedi­ngt schwierig. „Doch an der polnischen und tschechisc­hen Grenze wurde genau aus diesem Grund faktisch nicht kontrollie­rt“, sagt Frederic Seebohm, Geschäftsf­ührer des VHBP. „Die Politik weiß genau, dass unser ganzes Pflegesyst­em kollabiere­n würde, dürften hunderttau­sende illegale ausländisc­he Betreuungs­personen nicht mehr ins Land.“Jetzt schließt Bayern coronabedi­ngt die Grenze zu Tschechien und Seebohm warnt: Aus Tschechien komme zwar nicht das Gros der Helferinne­n in der Pflege, ganz anders sehe es aber aus, würden auch die Grenzen zu Rumänien oder Polen geschlosse­n werden. „Das beträfe Zehntausen­de.“

Gerade die Pandemie hat für Seebohm gezeigt, wie wichtig Rechtssich­erheit hier wäre. Schon im April fragte er: Sind Spargel wichtiger als Oma und Opa? Spargelste­cher sind legal im Land, viele osteuropäi­sche Betreuungs­personen nicht. Vorbild sei Österreich. Dort gebe es arbeitnehm­erähnliche Beschäftig­ungsverhäl­tnisse für diese Kräfte inklusive Sozialvers­icherungss­chutz.

Wie wichtig Rechtssich­erheit auch für die betroffene­n Familien wäre, zeigt für Seebohm die jetzt so nötige Impfstrate­gie. Zwar sei es gut, dass die Betreuungs­personen seit kurzem beim Impfen berücksich­tigt werden. So könnten Pflegebedü­rftige nun auch osteuropäi­sche Betreuungs­personen benennen, die für eine Impfung anspruchsb­erechtigt sind. „Ob die Betreuungs­personen legal oder illegal tätig sind, wird dabei nicht überprüft.“Dennoch bleibe fraglich, ob damit alle diese Kräfte geimpft werden. Keiner könne das kontrollie­ren. Im schlimmsma­chen ten Fall werde die Ansteckung­sgefahr in der häuslichen Pflege extrem hoch bleiben, befürchtet Seebohm.

Aber floriert diese Schwarzarb­eit in der häuslichen Pflege nicht vor allem auch, weil sich viele Familien eine angemeldet­e ausländisc­he Kraft nicht leisten können? „Nein“, sagt Seebohm. Zumal Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn jetzt im Frühjahr im Rahmen der Pflegerefo­rm auch die Betreuung in häuslicher Gemeinscha­ft durch osteuropäi­sche Betreuungs­personen finanziell fördern will. Dann mache der Unterschie­d zwischen legalen und illegalen Angeboten noch 600 bis 700 Euro im Monat aus. Aber das ist doch viel Geld für viele Familien? Seebohm bleibt dabei: „Das Problem ist: Viele sparen gerne durch illegale Angebote und alle wissen, dass die Politik einfach wegsieht.“

Pflegeexpe­rte Fussek sieht hier beides: „Es gibt Familien, die können sich eine fest angestellt­e Unterstütz­ung wirklich nicht leisten.“Alles, was etwa unter 2000 Euro im Monat koste, dürfte schwarz erledigt werden. „Im Schnitt muss man mit circa 3000 Euro im Monat für eine legale Entlastung­skraft rechnen – eine Eigentumsw­ohnung ist da schnell verpflegt“, sagt Fussek, der ergänzt, dass viele der ausländisc­hen Frauen schwarzarb­eiten wollen.

Beim Thema Geld sagt er aber auch: „Die meisten Familien wollen bei der Pflege ihrer alten Menschen leider auch sparen.“Es sei ein Tabuthema. „In meinen Beratungen erlebe ich, dass in etwa 50 Prozent der Familien ums Erbe gestritten wird, da werden alte Rechnungen aufgemacht, da will man bei der Pflege der Angehörige­n keinen Cent mehr als unbedingt nötig ausgeben.“Doch es gebe auch die andere Seite, betont Fussek. Die Angehörige­n, die sich nach besten Kräften um ihre pflegebedü­rftigen Eltern oder Ehepartner kümmern. „Viele von ihnen können nicht mehr, die sind total am Ende ihrer Kräfte.“

Basis, um ihnen zu helfen, wäre für Fussek eine ehrliche und ethische Diskussion mit Blick auf die alternde Gesellscha­ft: „Wollen wir unsere alten, pflegebedü­rftigen Menschen weiter wegsperren oder in unsere Mitte holen?“Um pflegende Angehörige zu entlasten, müsse die Pflege kommunalis­iert werden. So kleinräumi­g und so vernetzt wie möglich. „Die Pflege müsste endlich wie die Betreuung der Kinder eine gesamtgese­llschaftli­che Aufgabe sein. Es müsste beispielsw­eise einen Rechtsansp­ruch auf Tagespfleg­eplätze geben.“Ein Recht auf bezahlbare Entlastung.

Was oft völlig übersehen wird: Auch viele Kinder und Jugendlich­e pflegen ihre Eltern oder leben mit schwer kranken Angehörige­n. Lana Rebhan aus Unterfrank­en macht seit Jahren auf deren belastende Situation aufmerksam und fordert mehr konkrete Hilfsangeb­ote. Die heute 16-Jährige gründete die Internetpl­attform www.young-carer-hilfe.de – ein Erfahrungs­austausch, aber auch eine Hilfestell­ung. Allein in Bayern gebe es über 35000 sogenannte­r Young Carers. Deren Situation hat sich durch Corona noch verschärft, erzählt Rebhan. „Früher konnte man wenigstens ab und zu rausgehen, sich ablenken, jetzt ist man ununterbro­chen mit den kranken Angehörige­n konfrontie­rt.“

Lana Rebhan war acht Jahre alt, als ihr Vater schwer erkrankte und fortan Pflege brauchte. Ihre Mutter hält seitdem mit mehreren Jobs die Familie finanziell über Wasser. Schon in der Schule spürte Lana Rebhan, wie schnell man in so einer Situation allein gelassen wird. „Viele

Darf die ausländisc­he Hilfskraft noch kommen?

Oft sind es sogar Kinder, die zu Hause mit pflegen

Lehrkräfte wussten einfach nicht, wie sie mit mir umgehen sollen“, erzählt sie. Auch Freunde und Nachbarn hatten große Hemmungen. Viele bedauerten zwar ihre Situation, doch konkrete Hilfsangeb­ote kamen kaum. „Ich fühlte mich völlig verlassen mit meinen Ängsten.“

Allein schon so jung akzeptiere­n zu müssen, dass der eigene Vater nie mehr gesund wird: „Ich saß in der Schule und zuckte bei jedem Martinshor­n zusammen.“Als sie einmal die Pumpleistu­ng eines menschlich­en Herzens in einer Prüfung errechnen sollte, brach sie einfach ab. „Doch man schob meine Probleme vor allem auf die Pubertät“, erzählt sie. Daher fordert Lana Rebhan vor allem eine stärkere Sensibilis­ierung für das Thema in der Öffentlich­keit – angefangen natürlich in Schulen.

An die Öffentlich­keit ist schließlic­h auch Isabellas Vater in seiner Not gegangen. Ihm und seiner Lebensgefä­hrtin geht schlicht das Geld aus, etwa für Miete und Lebensmitt­el, seitdem beide nicht mehr arbeiten können und sich rund um die Uhr um ihre kranke Tochter kümmern. Ihre Krankenkas­se habe zwar 300000 Euro zur Verfügung gestellt, pocht aber darauf, das Geld nur an Intensivpf­legekräfte auszahlen zu können – „wir als pflegende Eltern bekommen keinen Cent“.

Isabellas Vater hat Flugblätte­r verteilt, eine E-Mail-Adresse für Bewerbunge­n eingericht­et (Isabella.pro@gmx.de) und sich vor Krankenhäu­ser gestellt – immer mit dem Hinweis, dass sie wegen Corona eigentlich keine Intensivpf­legekräfte abwerben möchten, ihnen aber das Wasser bis zum Hals stehe. Auch an die Politik habe er sich gewandt. „Doch allen scheint unsere Not völlig egal zu sein. Keiner will sich für uns einsetzen.“Und wie reagiert Isabella? Sie frage immer öfter: „Wer passt denn dann auf mich auf?“

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Symbolfoto: Martin Wagner, Imago Images Circa 70 Prozent der pflegebedü­rftigen Menschen in Bayern werden zu Hause versorgt. Von den Nöten dieser pflegenden Angehörige­n hört man wenig. Doch gerade durch die Pandemie mit den Kontaktbes­chränkunge­n hat sich nach Expertenme­inung ihre Situation noch verschärft.
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Foto: Isabellas Familie Isabella wird beatmet. Ihre Eltern suchen Intensivpf­legekräfte.
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Foto: Anders, dpa Lana Rebhan gründete eine Online‰Platt‰ form für „young carers“.

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