Die stille Not pflegender Angehöriger
Dass Pflegekräfte in Krankenhäusern und Altenheimen längst am Limit sind, ist bekannt. Doch Bilder aus Familien, in denen schwerst Kranke Tag und Nacht betreut werden, sieht man selten. Schon vor Corona war ihre Lage äußerst angespannt. Jetzt schlagen Exp
München Sie spielt Klavier, rauft mit ihrem neunjährigen Bruder und würde am liebsten sofort in die Schule gehen. Isabella ist ein lebhaftes, fröhliches, intelligentes Kind. Doch die Fünfjährige hat ein großes Handicap: Ein dicker Schlauch steckt in ihrem Hals, der direkt an ein Beatmungsgerät führt. Er ist ihr Lebensretter. Verheddert er sich und rutscht unbemerkt heraus, weil Isabella mal wieder zu arg herum gesprungen ist oder sich im Schlaf zu oft gedreht hat, kann ihr Gehirn binnen Sekunden schwer geschädigt sein. Im schlimmsten Fall ist Isabella binnen Sekunden tot.
Das hübsche Mädchen mit den langen dunklen Haaren leidet an einer seltenen Lungenerkrankung, die eine ununterbrochene Sauerstoffzufuhr nötig macht. Rund um die Uhr muss Isabella beatmet und daher beaufsichtigt werden. Weil sich keine Intensivkinderpflegekräfte finden, tun dies ihre Eltern. Doch sie können so nicht mehr weiter machen ...
Isabellas Familie, die am Rand von München lebt, ist sicher ein besonderer Fall. Doch dass sich Menschen rund um die Uhr um pflegebedürftige Angehörige kümmern, ist keine Seltenheit. Im Gegenteil.
Rund 350000 Pflegebedürftige werden in Bayern zu Hause versorgt. Nach Angaben des Sozialverbands VdK sind das 71 Prozent aller Pflegebedürftigen im Freistaat. War die Situation der Pflegenden schon vor Corona äußerst angespannt, „muss man nun den Katastrophenfall ausrufen“, sagt Ulrike Mascher, Vorsitzende des VdK Bayern im Gespräch mit unserer Redaktion. Die Bilder von überforderten Pflegekräften in Altenheimen, deren Lage sich durch Corona noch verschärft hat, kennt man. Die Bilder von überlasteten Pflegekräften in Kliniken, denen Corona zusätzlich zusetzt, kennt man. „Was wir so gut wie nie sehen, sind Bilder von Familien, in denen Pflegebedürftige von ihren Angehörigen in häuslichem Umfeld versorgt werden. Es ist eine stille, aber große Not.“
Und eine einsame Not. Denn durch Corona fallen die ohnehin wenigen Kontakte, die ohnehin wenigen Hilfsmöglichkeiten ganz weg. „Bayern hat viel zu wenig Pflegestützpunkte, die pflegende Angehörige beraten, und die wenigen sind vor allem im Norden Bayerns“, sagt Ulrike Mascher. Nicht einmal der Medizinische Dienst komme noch. „Durch Corona konzentriert sich die häusliche Pflege jetzt meist auf eine einzige Person. Und dieser Angehörige, meist sind es Frauen, ist jetzt durch die Pandemie komplett auf sich allein gestellt und noch stärker isoliert als er es vorher schon war“, schildert sie die Situation.
„Seit Corona bin ich komplett vereinsamt“, hat ihr eine Frau erzählt, die ihre demente 91-jährige Mutter pflegt. Schließlich gehören Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen zur gefährdetsten Gruppe, bei der das Risiko, dass eine Covid-Erkrankung tödlich ausgeht, am höchsten ist. Also versucht man Kontakte zu vermeiden. „Doch die Überforderung steigt“, sagt Mascher. „Und damit das Risiko für Konflikte. Eine Dame erzählte mir, dass sie jetzt am Abend ihrem pflegebedürftigen Mann eine etwas höhere Dosis Schlafmittel gibt, nur um endlich auch einmal durchschlafen zu können. Ein deutliches Zeichen von totaler Erschöpfung.“
Karin Schmid kennt diese Erschöpfung nur zu gut. Seit Jahren. Um genau zu sein, seit 33 Jahren. Ihr Sohn Helmut ist mehrfach geistig und körperlich schwer behindert. Von Geburt an. Er ist auf ständige Unterstützung angewiesen. Trotz aller Handicaps ist er ein lebenslustiger Mann. Doch ohne seine Eltern völlig hilflos. Auch Sprechen kann er nicht. Vor Corona ging Helmut regelmäßig in die Förderstätte des Fritz-Felsenstein-Hauses nach Königsbrunn bei Augsburg. Das Gruppen-Geschehen, die festen Strukturen sind für ihn elementar. Mit Corona fanden diese Besuche „dank der großen Anstrengung der Einrichtung“zumindest im Rahmen einer Notbetreuung statt. Positive Corona-Tests im familiären Umfeld zwangen die Schmids jedoch immer wieder in Quarantäne.
Das heißt: Karin und Leonhard Schmid waren rund um die Uhr sieben Tage die Woche mit ihrem pflegebedürftigen Sohn alleine. „Da sind sie der Verzweiflung nahe“, sagt die 58-Jährige. „Mir gehen langsam die Kräfte aus.“Dafür wachsen ihre Ängste: Was wird aus ihrem geliebten Sohn, wenn sie plötzlich ins Krankenhaus muss? Was wird aus ihm, wenn sie stirbt?
Seit Jahren kämpft Karin Schmid für wohnortnahe Kurzzeitpflegeplätze für körperlich und geistig behinderte junge Erwachsene. „Es ist haarsträubend, was ich erlebe. Ich komme mir vor wie auf einem Verschiebebahnhof“, sagt sie. „Keiner fühlt sich zuständig, alle Verantwortlichen drücken sich irgendwie weg.“Dabei bräuchte es nicht viel: Ein freies Wochenende im Monat, um auszuschlafen, um durchzuatmen, das würde ihr und ihrem Mann schon genügen. „Aber nicht für den Preis, dass unser Helmut in der Zeit irgendwo in einem Altenheim sitzt.“
Doch Kurzzeitpflegeplätze sind in Bayern generell ein rares Gut. Das ärgert auch Bayerns VdK-Chefin Ulrike Mascher. „Auch Tagespflegeeinrichtungen mussten aufgrund der Pandemie schließen und nur sehr zögerlich wieder auf – wegen der hygienischen Anforderungen oft nur mit deutlich weniger Plätzen. Für pflegende Angehörige heißt das: Sie arbeiten seit März durch, ohne auch nur einen Tag frei zu haben.“Doch eine Befragung zum Gesundheitszustand pflegender Angehöriger gebe es nicht – „vielleicht will man es auch lieber so genau nicht wissen“.
Einer, der seit langem nicht nur die oft elende Situation pflegebedürftiger Menschen in Heimen anprangert, sondern auch auf die Not in der häuslichen Pflege aufmerksam macht, ist Claus Fussek. Der Münchner Sozialpädagoge pflegt mit seinen Geschwistern selbst seine 90-jährige an Demenz erkrankte Mutter. An ihn wenden sich viele in ihrer Verzweiflung. Auch er sagt: „Pflegende Angehörige werden in unserem Land komplett allein gelassen.“Familie Fussek hat sich Hilfe aus dem Ausland geholt – wie viele Familien, die Angehörige pflegen und es nicht mehr schaffen. Eine Dame aus Rumänien hilft, „die wir über eine seriöse Agentur bekommen haben“. Doch nicht immer wird der seriöse Weg gewählt.
80 bis 90 Prozent der ausländischen Betreuungspersonen arbeiten illegal, ist sich der Bundesverband für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP) sicher. Seinen Angaben nach arbeiten im Laufe eines Jahres rund 700000 Betreuungspersonen aus Osteuropa, vor allem Frauen, in etwa 300 000 Haushalten. Gerade zu Beginn des ersten Lockdowns im vergangenen Jahr waren die Sorgen groß, schließlich wollen diese Helferinnen immer wieder in ihre Heimat. Aber die Ein- und Ausreise war coronabedingt schwierig. „Doch an der polnischen und tschechischen Grenze wurde genau aus diesem Grund faktisch nicht kontrolliert“, sagt Frederic Seebohm, Geschäftsführer des VHBP. „Die Politik weiß genau, dass unser ganzes Pflegesystem kollabieren würde, dürften hunderttausende illegale ausländische Betreuungspersonen nicht mehr ins Land.“Jetzt schließt Bayern coronabedingt die Grenze zu Tschechien und Seebohm warnt: Aus Tschechien komme zwar nicht das Gros der Helferinnen in der Pflege, ganz anders sehe es aber aus, würden auch die Grenzen zu Rumänien oder Polen geschlossen werden. „Das beträfe Zehntausende.“
Gerade die Pandemie hat für Seebohm gezeigt, wie wichtig Rechtssicherheit hier wäre. Schon im April fragte er: Sind Spargel wichtiger als Oma und Opa? Spargelstecher sind legal im Land, viele osteuropäische Betreuungspersonen nicht. Vorbild sei Österreich. Dort gebe es arbeitnehmerähnliche Beschäftigungsverhältnisse für diese Kräfte inklusive Sozialversicherungsschutz.
Wie wichtig Rechtssicherheit auch für die betroffenen Familien wäre, zeigt für Seebohm die jetzt so nötige Impfstrategie. Zwar sei es gut, dass die Betreuungspersonen seit kurzem beim Impfen berücksichtigt werden. So könnten Pflegebedürftige nun auch osteuropäische Betreuungspersonen benennen, die für eine Impfung anspruchsberechtigt sind. „Ob die Betreuungspersonen legal oder illegal tätig sind, wird dabei nicht überprüft.“Dennoch bleibe fraglich, ob damit alle diese Kräfte geimpft werden. Keiner könne das kontrollieren. Im schlimmsmachen ten Fall werde die Ansteckungsgefahr in der häuslichen Pflege extrem hoch bleiben, befürchtet Seebohm.
Aber floriert diese Schwarzarbeit in der häuslichen Pflege nicht vor allem auch, weil sich viele Familien eine angemeldete ausländische Kraft nicht leisten können? „Nein“, sagt Seebohm. Zumal Bundesgesundheitsminister Jens Spahn jetzt im Frühjahr im Rahmen der Pflegereform auch die Betreuung in häuslicher Gemeinschaft durch osteuropäische Betreuungspersonen finanziell fördern will. Dann mache der Unterschied zwischen legalen und illegalen Angeboten noch 600 bis 700 Euro im Monat aus. Aber das ist doch viel Geld für viele Familien? Seebohm bleibt dabei: „Das Problem ist: Viele sparen gerne durch illegale Angebote und alle wissen, dass die Politik einfach wegsieht.“
Pflegeexperte Fussek sieht hier beides: „Es gibt Familien, die können sich eine fest angestellte Unterstützung wirklich nicht leisten.“Alles, was etwa unter 2000 Euro im Monat koste, dürfte schwarz erledigt werden. „Im Schnitt muss man mit circa 3000 Euro im Monat für eine legale Entlastungskraft rechnen – eine Eigentumswohnung ist da schnell verpflegt“, sagt Fussek, der ergänzt, dass viele der ausländischen Frauen schwarzarbeiten wollen.
Beim Thema Geld sagt er aber auch: „Die meisten Familien wollen bei der Pflege ihrer alten Menschen leider auch sparen.“Es sei ein Tabuthema. „In meinen Beratungen erlebe ich, dass in etwa 50 Prozent der Familien ums Erbe gestritten wird, da werden alte Rechnungen aufgemacht, da will man bei der Pflege der Angehörigen keinen Cent mehr als unbedingt nötig ausgeben.“Doch es gebe auch die andere Seite, betont Fussek. Die Angehörigen, die sich nach besten Kräften um ihre pflegebedürftigen Eltern oder Ehepartner kümmern. „Viele von ihnen können nicht mehr, die sind total am Ende ihrer Kräfte.“
Basis, um ihnen zu helfen, wäre für Fussek eine ehrliche und ethische Diskussion mit Blick auf die alternde Gesellschaft: „Wollen wir unsere alten, pflegebedürftigen Menschen weiter wegsperren oder in unsere Mitte holen?“Um pflegende Angehörige zu entlasten, müsse die Pflege kommunalisiert werden. So kleinräumig und so vernetzt wie möglich. „Die Pflege müsste endlich wie die Betreuung der Kinder eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein. Es müsste beispielsweise einen Rechtsanspruch auf Tagespflegeplätze geben.“Ein Recht auf bezahlbare Entlastung.
Was oft völlig übersehen wird: Auch viele Kinder und Jugendliche pflegen ihre Eltern oder leben mit schwer kranken Angehörigen. Lana Rebhan aus Unterfranken macht seit Jahren auf deren belastende Situation aufmerksam und fordert mehr konkrete Hilfsangebote. Die heute 16-Jährige gründete die Internetplattform www.young-carer-hilfe.de – ein Erfahrungsaustausch, aber auch eine Hilfestellung. Allein in Bayern gebe es über 35000 sogenannter Young Carers. Deren Situation hat sich durch Corona noch verschärft, erzählt Rebhan. „Früher konnte man wenigstens ab und zu rausgehen, sich ablenken, jetzt ist man ununterbrochen mit den kranken Angehörigen konfrontiert.“
Lana Rebhan war acht Jahre alt, als ihr Vater schwer erkrankte und fortan Pflege brauchte. Ihre Mutter hält seitdem mit mehreren Jobs die Familie finanziell über Wasser. Schon in der Schule spürte Lana Rebhan, wie schnell man in so einer Situation allein gelassen wird. „Viele
Darf die ausländische Hilfskraft noch kommen?
Oft sind es sogar Kinder, die zu Hause mit pflegen
Lehrkräfte wussten einfach nicht, wie sie mit mir umgehen sollen“, erzählt sie. Auch Freunde und Nachbarn hatten große Hemmungen. Viele bedauerten zwar ihre Situation, doch konkrete Hilfsangebote kamen kaum. „Ich fühlte mich völlig verlassen mit meinen Ängsten.“
Allein schon so jung akzeptieren zu müssen, dass der eigene Vater nie mehr gesund wird: „Ich saß in der Schule und zuckte bei jedem Martinshorn zusammen.“Als sie einmal die Pumpleistung eines menschlichen Herzens in einer Prüfung errechnen sollte, brach sie einfach ab. „Doch man schob meine Probleme vor allem auf die Pubertät“, erzählt sie. Daher fordert Lana Rebhan vor allem eine stärkere Sensibilisierung für das Thema in der Öffentlichkeit – angefangen natürlich in Schulen.
An die Öffentlichkeit ist schließlich auch Isabellas Vater in seiner Not gegangen. Ihm und seiner Lebensgefährtin geht schlicht das Geld aus, etwa für Miete und Lebensmittel, seitdem beide nicht mehr arbeiten können und sich rund um die Uhr um ihre kranke Tochter kümmern. Ihre Krankenkasse habe zwar 300000 Euro zur Verfügung gestellt, pocht aber darauf, das Geld nur an Intensivpflegekräfte auszahlen zu können – „wir als pflegende Eltern bekommen keinen Cent“.
Isabellas Vater hat Flugblätter verteilt, eine E-Mail-Adresse für Bewerbungen eingerichtet (Isabella.pro@gmx.de) und sich vor Krankenhäuser gestellt – immer mit dem Hinweis, dass sie wegen Corona eigentlich keine Intensivpflegekräfte abwerben möchten, ihnen aber das Wasser bis zum Hals stehe. Auch an die Politik habe er sich gewandt. „Doch allen scheint unsere Not völlig egal zu sein. Keiner will sich für uns einsetzen.“Und wie reagiert Isabella? Sie frage immer öfter: „Wer passt denn dann auf mich auf?“