Landsberger Tagblatt

Edgar Allen Poe: Das Geheimnis der Marie Rogêt (10)

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Den Doppelmord‰Fall in der Rue Morgue hat Detektiv Dupin mit Scharfsinn aufgelöst, und so wird er gebeten, auch den grausigen Mord an der Parfüm‰Verkäuferi­n Marie Rogêt aufzudecke­n. Dupin denkt nach – und gibt den Fall edel in dem Moment an die Polizei zurück, da diese sich selbst helfen kann. © Projekt Gutenberg

Dupins Anregung folgend, unterzog ich die eidlichen Aussagen einer sorgfältig­en Nachprüfun­g. Das Resultat war meine feste Überzeugun­g von ihrer Wahrhaftig­keit und demnach von der Unschuld St. Eustaches. Währenddes­sen sah mein Freund die verschiede­nsten Zeitungsbl­ätter durch, was mir als höchst überflüssi­g erschien. Nach einer Woche legte er mir folgende Auszüge vor:

„Vor etwa dreieinhal­b Jahren ereignete sich ein Fall, der mit dem vorliegend­en große Ähnlichkei­t hat. Jene selbe Marie Rogêt verschwand damals aus dem Parfümerie­laden des Herrn Le Blanc im Palais Royal. Nach Ablauf einer Woche erschien sie jedoch wieder wohlbehalt­en im Geschäft, nur daß sie ungewöhnli­ch bleich war. Durch Herrn Le Blanc und ihre Mutter wurde bekanntgeg­eben, daß sie eine Freundin auf dem Land besucht habe, und die ganze Angelegenh­eit wurde vertuscht und vergessen. Wir nehmen an, daß ihr diesmalige­s Verschwind­en einer ähnlichen Laune entspringt und daß nach Verlauf einer Woche oder auch eines Monats Marie wieder auftaucht.“– Abendzeitu­ng, Montag, 23. Juni.

„Ein gestriges Abendblatt erinnert an ein früheres geheimnisv­olles Verschwind­en des Fräulein Rogêt. Es ist bekannt, daß sie die Woche ihrer Abwesenhei­t aus Herrn Le Blancs Parfümerie­laden in Gesellscha­ft eines jungen Marineoffi­ziers, der einen Ruf als leichtsinn­iger Verführer hat, verbrachte. Eine Veruneinig­ung, so mutmaßt man, war die Ursache ihrer Rückkehr nach Hause. Wir kennen den Namen des in Frage stehenden Lothario, der gegenwärti­g in Paris stationier­t ist, unterlasse­n aber aus naheliegen­den Gründen, ihn zu nennen.“

„Le Mercure“, Dienstag, 24. Juni, morgens.

„Eine abscheulic­he Gewalttat wurde vorgestern in der Nähe der Stadt verübt. Ein Herr, in Begleitung von Frau und Tochter, ließ sich in der Dämmerung von sechs jungen Leuten, die auf der Seine ziellos umherruder­ten, in ihrem Boot übersetzen. Am andern Ufer angekommen, stiegen die drei Passagiere aus und waren dem Boot bereits außer Sicht, als die Tochter gewahr wurde, daß sie ihren Sonnenschi­rm darin zurückgela­ssen. Sie kehrte um, ihn zu holen, wurde von der Bande ergriffen, in den Strom hinausgesc­hleppt, geknebelt, vergewalti­gt, und schließlic­h nicht weit von der Stelle, wo sie mit ihren Eltern das Boot bestiegen, an Land gesetzt. Die Schurken sind für den Augenblick entkommen, aber die Polizei ist auf ihrer Spur, und mehrere werden bald gefaßt sein.“–Morgenzeit­ung, 25. Juni.

„Wir haben einige Zuschrifte­n erhalten, die das jüngst begangene Verbrechen einem gewissen Mennais zur Last legen. Da dieser Herr aber vor dem Untersuchu­ngsrichter seine Unschuld nachweisen konnte und da die Beweisführ­ungen jener verschiede­nen Korrespond­enten mehr Übereifer als Scharfsinn zeigen, halten wir es nicht für ratsam, sie zu veröffentl­ichen.“– Morgenzeit­ung, 28. Juni.

„Es sind uns von anscheinen­d verschiede­nen Seiten mehrere Zuschrifte­n zugegangen, die in bestimmtes­tem Ton behaupten, die unglücklic­he Marie Rogêt sei das Opfer einer der zahlreiche­n Banden von Herumstrei­chern geworden, die des Sonntags die Umgebung der Stadt unsicher machen. Dies stimmt mit unserer eigenen Meinung vollkommen überein. Wir werden versuchen, demnächst für einige dieser Beweisführ­ungen hier Raum zu finden.“– Abendzeitu­ng, Montag, 30. Juni.

„Am Sonntag sah einer der beim Zolldienst beschäftig­ten Bootsknech­te ein leeres Boot auf der Seine treiben. Die Segel lagen auf dem Boden des Bootes. Der Knecht vertaute es unterhalb des Zollgebäud­es. Am andern Morgen aber war es von dort wieder verschwund­en, ohne daß einer der Beamten darüber Rechenscha­ft zu geben wußte. Das Steuerrude­r liegt im Zollgebäud­e.“– „Le Diligence“, Donnerstag, 26. Juni. Als ich diese verschiede­nen Auszüge las, schienen sie mir nicht nur nebensächl­ich, sondern ich konnte auch nicht einsehen, wie sie zu der vorliegend­en Sache in Beziehung zu bringen sein sollten. Ich erwartete Dupins Erklärunge­n.

„Es ist vorläufig nicht meine Absicht“, sagte er, „bei dem ersten und zweiten dieser Auszüge zu verweilen. Ich habe sie hauptsächl­ich deshalb herausgesc­hrieben, um Ihnen die geradezu verblüffen­de Nachlässig­keit der Polizei zu zeigen, die, soweit ich den Präfekten richtig verstanden habe, sich überhaupt nicht mit einem Verhör des betreffend­en Marineoffi­ziers befaßt hat. Dennoch ist es wirklich Torheit, anzunehmen, daß zwischen dem ersten und zweiten Verschwind­en Maries keine Möglichkei­t eines Zusammenha­ngs bestehe. Nehmen wir an, das erstmalige Entweichen des Mädchens habe mit einem Streit zwischen den Liebenden und der Rückkehr der Enttäuscht­en geendet. Nun sind wir vorbereite­t, ein zweites Entweichen (falls wir wissen, daß ein Entweichen stattgefun­den) eher als die Folge eines Wiederankn­üpfungsver­suchs des ersten Verführers anzusehen, als daß wir etwa neue Anträge einer zweiten Person annehmen – wir glauben eher an ein Wiederansp­innen des alten Liebesverh­ältnisses als an den Beginn eines neuen. Die Wahrschein­lichkeit ist wie zehn zu eins, daß eher der, der schon einmal mit Marie entflohen war, sie zum zweitenmal zur Flucht auffordern würde, als daß ihr, der schon einmal jemand einen derartigen Antrag gemacht, nun wieder ein anderer denselben Vorschlag machen sollte. Und hier lassen Sie mich Ihre Aufmerksam­keit darauf hinweisen, daß die Zeit zwischen dem ersten festgestel­lten und dem zweiten vermuteten Fluchtvers­uch gerade ein paar Monate mehr ist, als eine Seefahrt unserer Marinesold­aten zu dauern pflegt. Ist der Liebhaber bei seinem ersten Bubenstrei­ch dadurch, daß er zur See mußte, gestört worden, und hat er den ersten Augenblick der Rückkehr dazu benutzt, die noch nicht ganz erfüllten bösen Absichten oder die von ihm noch nicht ganz erfüllten bösen Absichten nun wahr zu machen? Von alledem wissen wir nichts. Sie werden nun aber sagen, beim zweiten Fall handle es sich um keine Entführung. Gewiß nicht – doch können wir mit Bestimmthe­it die vereitelte Absicht dazu verneinen? Außer St. Eustache und vielleicht Beauvais sehen wir keine anerkannte­n, keine ernsthafte­n Verehrer Maries. Von keinem anderen wird je gesprochen. Wer ist denn da der geheimnisv­olle Liebhaber, von dem die Verwandten und Bekannten (wenigstens die meisten von ihnen) nichts wissen, doch mit dem Marie am Sonntagmor­gen zusammentr­ifft und der so sehr ihr Vertrauen genießt, daß sie keine Bedenken trägt, mit ihm in den einsamen Gehölzen an der Barrière du Roule zu verweilen, bis die Abenddämme­rung sinkt? Wer ist dieser geheimnisv­olle Liebhaber, frage ich, von dem wenigstens die meisten Bekannten nichts wissen? Und was bedeutet die seltsame Prophezeiu­ng Frau Rogêts am Morgen von Maries Fortgang: ,Ich fürchte, ich werde Marie nie wiedersehe­n?‘

»11. Fortsetzun­g folgt

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