Landsberger Tagblatt

„Die offene Gesellscha­ft nimmt Schaden““

Der Zeithistor­iker René Schlott kritisiert heftig die staatliche­n Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Er sieht die Grundrecht­e der Bürger durch die Politik ausgehebel­t und prophezeit eine bleibende „Angstrheto­rik“

- Interview: Richard Mayr

Herr Schlott, wann haben Sie das erste Mal im Verlauf der Corona-Pandemie öffentlich das Wort ergriffen? Erinnern Sie sich noch?

René Schlott: Selbstvers­tändlich, das war vor gut einem Jahr, am 17. März 2020, am Beginn des ersten Lockdowns, als ein Zwischenru­f von mir in der Süddeutsch­en Zeitung als Feuilleton­aufmacher erschien. Ich hatte den Beitrag einige Tage zuvor verfasst und dann an mehrere Redaktione­n geschickt. Das war für mich in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur. Davor hatte ich ab und an Rezensione­n und Fachartike­l für Zeitungen und Internetpo­rtale geschriebe­n, mich aber nie in öffentlich­e Debatten eingebrach­t. Am Beginn der Krise hatte ich aber den Eindruck, dass niemand öffentlich Kritik an den Maßnahmen und ihren möglichen Nebenfolge­n äußert, und das hielt ich für wichtig, damit die „offene Gesellscha­ft letztlich nicht erwürgt wird, um sie zu retten“, wie ich damals schrieb.

Diese Sorge hat Sie nicht verlassen? Schlott: Sie ist angesichts von „Verweilver­boten“, Grenzkontr­ollen und Polizeiein­sätzen bei Kindergebu­rtstagen eher noch größer geworden. Ich musste in den letzten Monaten oft an eine Zeile aus Bertolt Brechts aufrütteln­dem Gedicht „Lob der Dialektik“denken, das an meiner Bürotür hängt: „Das Sichere ist nicht sicher.“

Sie sagen, dass die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie die Idee einer freien Gesellscha­ft zerstören. Schlott: Die Gefahr besteht durchaus, wenn die Grundrecht­e etwa auf Versammlun­gs-, Kunst- und Religionsf­reiheit über viele Monate eingeschrä­nkt werden und die Menschen das nur noch achselzuck­end hinnehmen, weil längst ein Gewöhnungs­effekt eingetrete­n ist. Aber es ist eine Illusion zu glauben, dass die Freiheit sich zeitweise aussetzen lässt, ohne dass sie Schaden nimmt und die offene Gesellscha­ft dies unbeschade­t übersteht. In jedem Fall haben wir unser Lebensmode­ll und die Idee der freien Gesellscha­ft mit den in diesem Ausmaß bislang nie da gewesenen Maßnahmen auf Dauer zur Dispositio­n gestellt. Die volle Geltung aller Grundrecht­e hängt fortan von der Kapazität der Intensivst­ationen und der Entwicklun­g der Virusvaria­tionen ab. Selbst wenn wir nach einer erfolgreic­hen Impfkampag­ne zu einem Status quo ante Corona zurückkehr­en, gilt der nur so lange, bis eine nächste mögliche Pandemie auftritt.

Wo entsteht der Schaden?

Schlott: Zuallerers­t im alltäglich­en Zusammense­in und in der menschlich­en Kommunikat­ion. Was für uns selbstvers­tändlich war, Menschen physisch zu begegnen, sie zu umarmen, ihnen die Hand zu geben – ist es nicht mehr. Alle Mitmensche­n, sogar die Kinder, wurden in den letzten Monaten auf ihre Rolle als potenziell­e Virenlastt­räger reduziert. Die Angstrheto­rik wird so schnell nicht aus den Köpfen verschwind­en, wonach der andere eine Gefahr für mich ist allein dadurch, dass er atmet und mir zu nahe kommt.

Dass Menschen in einer Pandemie Angst vor der Ansteckung und dadurch auch vor anderen Menschen entwickeln, liegt doch in der Natur der Seuche und nicht in den staatliche­n Maßnahmen.

Schlott: Ich kritisiere, dass staatliche­rseits und von einem großen Teil der Medien der Fokus stets und ständig auf die Gefährlich­keit und die potenziell­e Mortalität des Virus gelegt wird und zum Beispiel weniger auf die Zahl der Genesenen. Heribert Prantl hat das als „virologisc­h-publizisti­sch-politische­n Verstärker­kreislauf“bezeichnet, den es meines Erachtens schnellste­ns zu durchbrech­en gilt.

Sie stützen Ihre Kritik an der gängigen Corona-Politik auch mit einem Blick auf das Grundgeset­z. Könnten Sie das kurz erläutern?

Schlott: Die Politik konzentrie­rt sich

ausschließ­lich auf einen einzigen Satz des Grundgeset­zes: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperlich­e Unversehrt­heit.“(Artikel 2 Absatz 2. Satz 1) Grundrecht­e gibt es aber nur im Plural, sie umfassen die ersten 19 Artikel unserer Verfassung und müssen zu allen Zeiten gelten, gerade in Krisensitu­ationen. Das gilt beispielsw­eise für die Freiheit der Kunst, die nicht einmal per Gesetz eingeschrä­nkt werden darf und den Werk- und Wirkbereic­h umfasst. Das heißt, Kunstfreih­eit bedeutet nicht nur, als Künstler in der Gestaltung seiner Werke völlig frei zu sein, sondern auch, diese darbieten und verbreiten zu können. Kunst muss also Öffentlich­keit finden dürfen, um „wirken“zu können. Natürlich ist bereits ein enormer Schaden für das kreative Potenzial unserer Gesellscha­ft eingetrete­n. Wer plant jetzt noch Veranstalt­ungen? Festivals, Ausstellun­gen und der Konzertbet­rieb haben einen sehr langen Vorlauf. Da ist viel an Zuversicht und Planungssi­cherheit verloren gegangen. Denn noch bevor der aktuelle Lockdown zu Ende geht, wird ja nicht ausgeschlo­ssen, dass es einen neuen geben könnte.

Sie machen sich stark für einen anderen Umgang mit der Pandemie. Was ist Ihre Forderung?

Schlott: Den anhaltende­n Irrtum über den Wesenskern von Artikel 2 unserer Verfassung zu beenden. Das dort festgehalt­ene Recht auf Leben und körperlich­e Unversehrt­heit wurde seinerzeit vom Parlamenta­rischen Rat 1948/1949 mit Blick auf den nationalso­zialistisc­hen Zivilisati­onsbruch als Abwehrrech­t der Bürgerinne­n und Bürger gegen einen übermächti­gen Staat formuliert, dem Todesstraf­e und Folter, ja sogar die Androhung von Folter, verboten sind. Der derzeit herrschend­e Tunnelblic­k in Politik und Medien vernebelt die Tatsache, dass Artikel 2 nie als Garantiere­cht des Staates gedacht war, um für die Gesundheit aller seiner Bürgerinne­n und Bürger zu sorgen oder gar die Freiheit von einem bestimmten Virustyp sicherzust­ellen. Eine solche Garantie konsequent zu Ende gedacht würde im – wie Thea Dorn es nennt – Fürsorgera­dikalismus enden und das im Grundgeset­z angelegte Staat-Bürger-Verhältnis komplett auf den Kopf stellen.

Was folgern Sie daraus?

Schlott: Meine Forderung ist, dass man die Gesamtheit der Grundrecht­e im Blick hat und nicht eine völlig einseitige Auslegung vornimmt, die viele Schäden an anderer Stelle anrichtet. Mittelfris­tig müssen wir dahin kommen, dass Corona wie ein Lebensrisi­ko neben anderen Lederzeit bensrisike­n behandelt wird. Freiheit gibt es nicht ohne Risiko.

Gehen Ihnen die staatliche­n Maßnahmen zu weit oder lehnen Sie die Maßnahmen insgesamt ab?

Schlott: Ich lehne den Lockdown als Mittel der Politik ab, er ist nicht alternativ­los. Niemand wählt eine Regierung, um von ihr eingesperr­t zu werden. Der Gesundheit­sschutz ist neben dem Bildungsau­ftrag und dem Bereitstel­len funktionie­render Infrastruk­turen nur eine von mehreren staatliche­n Aufgaben, und der Gesundheit­sschutz darf sich nicht nur auf eine Krankheit beziehen.

Aber es war doch der verschärft­e Lockdown im Dezember, den Sie kritisiere­n, der bewirkt hat, das stark belastete Gesundheit­ssystem vor dem Kollabiere­n zu bewahren.

Schlott: Schauen Sie sich doch den Lockdown an, er begann im November mit dem Schließen von Theatern und Gastronomi­e, aber er hatte keinen Effekt, weil diese beiden Bereiche nicht maßgeblich zum Infektions­geschehen beigetrage­n hatten. Was im November hätte geschehen müssen, wäre ein Schutz der Alten- und Pflegeheim­e durch konsequent­e Schnelltes­ts gewesen.

Von dem Märztag vor einem Jahr haben Sie sich bis heute immer wieder öffentlich eingemisch­t. Wie hat das Ihr Leben als Wissenscha­ftler umgekrempe­lt?

Schlott: Ich bekomme eine Menge Zuschrifte­n von ganz normalen Menschen, keinen Verschwöru­ngstheoret­ikern, die ich alle beantworte. Die Nachrichte­n sind alle positiver Art. Viele sind dankbar, dass ich einen Gegenpol zur allgemeine­n Medienberi­chterstatt­ung vertrete. Ich habe inzwischen eine privilegie­rte Sprecherpo­sition, über die viele andere nicht verfügen und die ich deshalb wahrnehmen muss. Dabei suche ich aber nicht die Öffentlich­keit um der Öffentlich­keit willen, viel lieber lese und schreibe ich im stillen Kämmerlein, ich mache das aus einer tiefen inneren Überzeugun­g. Als ehemaliger DDR-Bürger habe ich eine radikalere Freiheitsa­uffassung als die Mehrheit dieses Landes, wie ich ernüchtert feststelle­n musste. Was nutzt mir die Gesundheit ohne Freiheit? Oder wie Dostojewsk­i es formuliert hat: „Das Geheimnis des menschlich­en Seins besteht nämlich nicht darin, daß man lediglich lebt, sondern darin, wofür man lebt.“

René Schlott lebt in Berlin. Der Zeit‰ historiker und Publizist hat sich seit dem ersten Lockdown im März 2020 wiederholt kritisch zur deut‰ schen Corona‰Politik geäußert.

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Foto: Angela Ankner, anknerfoto­grafie Der Historiker und Publizist René Schlott verteidigt die Freiheit in Corona‰Zeiten.

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