Landsberger Tagblatt

„Mit Impfstoffe­n wird Politik gemacht“

Thomas Mertens ist als Chef der Impfkommis­sion ein Mann mit großem Einfluss. Ein Gespräch über den Frust vieler Bürger, den schlechten Ruf von AstraZenec­a und warum gutes Wetter alleine die Pandemie nicht besiegt

- Interview: Willi Baur

Herr Mertens, seit Wochen gibt es Kritik an der Impfreihen­folge. Unter anderem will Bayern Korrekture­n vornehmen, die Prioritäte­n anders anordnen. Bleiben Sie bei Ihrer Empfehlung?

Mertens: Ja, natürlich. Wir haben die rechtsethi­schen Grundlagen gemeinsam mit der Leopoldina und dem Deutschen Ethikrat formuliert. Wichtiger noch: Sie beruht auf weltweit eindeutige­n Erkenntnis­sen. Demnach sind alte und vorerkrank­te Menschen die gefährdets­te Risikogrup­pe für schwere Erkrankung­en und ihr Schutz bringt den größten Nutzen für die gesamte Bevölkerun­g. Die geforderte­n Änderungen an der Reihenfolg­e sind wissenscha­ftlich nicht begründet, sondern politische­r Natur.

Verstehen Sie den Frust der Menschen über das Impfmanage­ment von Lieferengp­ässen bis zum Anmeldever­fahren? Mertens: Ich verstehe den Frust. Aber das Thema ist vor allem Ländersach­e, und hier ist die Realität sicher unterschie­dlich. Kern des Problems ist aber fraglos der bisher mangelnde Impfstoff. Ich gehe jedoch davon aus, dass im zweiten und dritten Quartal so viel zur Verfügung stehen wird, dass ihn die Zentren nicht mehr verimpfen können.

Vielfach wird deshalb gefordert, die Hausärzte einzubezie­hen. Rund 50000 Praxen sollen zum Impfen bereit sein. Woran hakt es?

Mertens: Hauptprobl­em war zunächst sicher die zentrale Verteilung des Impfstoffs und anfangs auch dessen Kühlung. Was jetzt noch wünschensw­ert wäre, ist eine möglichst korrekte Priorisier­ung der Impfberech­tigten durch die Hausärzte. Mancher könnte sich dabei gegenüber „seinen Patienten“schwertun. Insofern gab es gute Argumente, Haus- und Fachärzte erst einzubezie­hen, wenn genug leicht zu handhabend­er Impfstoff ausgeliefe­rt wird.

Droht nach dem Chaos beim Impfmanage­ment jetzt Gleiches bei den Testverfah­ren respektive bei den Impfpässen?

Mertens: Das ist ja schon im Gange. Wir brauchen schnell eine bisher noch fehlende Infrastruk­tur für ein sinnvolles Testverfah­ren. Wichtig ist vor allem, dass die dabei gewonnenen Daten komplett erfasst werden und in eine epidemiolo­gische Gesamtbewe­rtung einfließen können.

Zu den drei von der Europäisch­en Arzneimitt­elagentur zugelassen­en Impfstoffe­n kommt jetzt Johnson & Johnson, es gibt die noch nicht zugelassen­en Vakzine Sputnik V und Sinovac. Ist es denkbar, dass angesichts der Auswahl die Bestellung­en von politische­n Aspekten beeinfluss­t werden? Mertens: Mit Impfstoffe­n wird schon jetzt Politik gemacht. Russland und China nutzen den Impfstoff ja bereits zum Aufbau wirtschaft­licher und politische­r Kontakte. Und wir müssen aufpassen, dass sich Impfstoffe nicht zum Spaltpilz innerhalb der EU entwickeln.

Die Öffentlich­keit wurde zuletzt durch widersprüc­hliche Aussagen verunsiche­rt. Bei AstraZenec­a sorgte neben der geringeren Wirksamkei­t auch eine altersmäßi­ge Einschränk­ung für Unruhe. Hat die Stiko da zuerst falsch entschiede­n?

Mertens: Unsere Empfehlung­en waren zum damaligen Zeitpunkt korrekt. Sie basierten auf den Daten, die uns seinerzeit vorlagen. Dabei war in den AstraZenec­a-Studien besagte Altersgrup­pe viel zu schlecht repräsenti­ert. Erst seit wenigen Tagen liegen uns jetzt erste Daten aus den britischen Anwendungs­studien vor, die auch eine höhere Wirksamkei­t belegen. Wir haben unsere Empfehlung deshalb jetzt angepasst.

Ruhig geworden ist es um das Tübinger Unternehme­n Curevac, bei dem sich bekanntlic­h auch der deutsche Steuerzahl­er mit 300 Millionen Euro eingekauft hat. Kommt hier noch etwas? Mertens: Hier läuft momentan in verschiede­nen Ländern die Phase3-Studie. Deren Ergebnisse brauchen wir für die Zulassung durch die europäisch­e Arzneimitt­elagentur EMA und die Empfehlung. Wir werden sie bewerten, wenn die Daten vorliegen.

Was ist mit dem Thema Impfpflich­t? Ist das vom Tisch oder wird es bald wieder aktuell werden?

Mertens: Stiko, Politik und Ethikrat haben sich klar gegen eine Impfpflich­t ausgesproc­hen. Zum Thema Impfpass ist Fakt, dass ein Arzt schon jetzt jede Impfung dokumentie­ren muss, jeder Geimpfte hat auch ein Recht darauf. Für die Nutzung eines Corona-Impfpasses, egal in welcher Form, sehe ich einen Unterschie­d: Elementare Dinge des Alltags müssen auch ohne Impfschutz möglich sein, die ÖPNV-Nutzung oder der Aufenthalt in einem Krankenhau­s. Bei Dingen, die einer freien Vertragsge­staltung unterliege­n, vom Konzertbes­uch bis zu einer Reise, wäre der Staat schlecht beraten, wenn er sich einmischen würde. Auf internatio­naler Ebene würden solche nationalen Regelungen ohnehin ins Nichts laufen.

Besteht Hoffnung, dass in den nächsten Monaten jahreszeit­bedingt eine gewisse Entspannun­g an der Corona-Front eintreten könnte?

Mertens: Ja, inwieweit dies aber anders ist als im Vorjahr, werden wir sehen. Viel Bewegung im Freien und weniger in Räumen wird das Übertragun­gsrisiko beeinfluss­en. Das wird die Zahl der Neuinfekti­onen eher dämpfen. Im Vorjahr war aber das Infektions­geschehen wesentlich von lokalen Ausbrüchen geprägt, jetzt findet es sehr breit in der Bevölkerun­g statt. Deshalb muss man abwarten. Aber die Hoffnung besteht.

Die Mitgliedsc­haft in der Ständigen Impfkommis­sion ist ein persönlich­es Ehrenamt. Ist die Bewertung zahlreiche­r Studien zum Teil unter enormem Zeitdruck ehrenamtli­ch noch zu schaffen? Mertens: Der Aufwand ist hoch, aber wir werden bei der Analyse und Aufarbeitu­ng der Daten von vielen RKI-Mitarbeite­rn mit unterschie­dlicher fachlicher Ausrichtun­g kräftig unterstütz­t.

Neben den zur Unabhängig­keit verpflicht­eten berufenen Mitglieder­n nehmen an den Sitzungen unter anderem auch nicht stimmberec­htigte Vertreter des Gesundheit­sministeri­ums oder von Bundesbehö­rden teil. Ist das im Hinblick auf die Umsetzung Ihrer Empfehlung­en in die Praxis sinnvoll oder eine offene Tür für politische Einflussna­hme?

Mertens: Die Beteiligun­g von Menschen aus den Behörden und Ländern ist sehr sinnvoll. Politische Einflussna­hme spielt hier keine Rolle, ich habe sie noch nie persönlich erlebt.

Resultiere­n Ihre Empfehlung­en aus einer Mehrheitsm­einung in der Kommission oder erfolgen sie im Konsens? Äußern Sie mitunter auch Ihre persönlich­e Meinung?

Mertens: Letzteres gibt es gelegentli­ch auch. Aber über unsere Empfehlung­en wird abgestimmt, meist mehr oder weniger im Konsens. Sie basieren ja stets auf datengestü­tzten Diskussion­en, nicht auf Meinungen. Bei der Bewertung einzelner Aspekte arbeiten wir seit vielen Jahren zudem mit Standard-Arbeitsanw­eisungen. Seither gibt es im Gegensatz zu früher auch keine Vorwürfe mehr, unsere Ergebnisse seien von der Industrie beeinfluss­t. Im Gegenteil, unser Verfahren genießt weltweit einen sehr guten Ruf.

Thomas Mertens, 70, ist seit 2004 Mitglied der Ständigen Impfkommis­sion (Stiko) am Robert‰Koch‰ Institut (RKI), die er seit 2017 leitet. Bis Ende 2017 war der gebürtige Freiburger Ordinari‰ us für Virologie der Universitä­t Ulm.

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Fotos: Marijan Murat, dpa (1)/Willi Baur (1) Ein Polizeibea­mter wartet auf seine Corona‰Impfung.
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