Landsberger Tagblatt

„Ich vermisse eine sichtbare Heimatpoli­tik“

Der Philosoph Wilhelm Schmid hat ein Buch über Heimat geschriebe­n. Im Gespräch wird er sehr persönlich und ziemlich politisch. Es geht um seine Wurzeln in der Region, aber auch um Überfremdu­ng – und Lehren aus Corona

- Interview: Wolfgang Schütz

Heimat ist an sich schon kein einfacher Begriff. Nun beschreibe­n Sie, Herr Schmid, gleich eine ganze Vielzahl von Heimaten. Gibt es denn so etwas wie eine eigentlich­e Heimat gar nicht? Wilhelm Schmid: Ich glaube, das kann sich für Menschen im Laufe des Lebens ändern. Nicht zuletzt ist eine eigentlich­e Heimat für sehr viele Menschen die Beziehung zu den Nächsten, in der Familie, im Freundeskr­eis. Für viele ist es auch die Arbeit, die sie gerne tun, oft verbunden mit der Arbeitsste­lle. Das lässt sich also nicht theoretisc­h sagen, was die eigentlich­e Heimat für den einzelnen Menschen ist. Ich nenne das gerne Kernheimat, größter Stein im Heimatmosa­ik. Aber der Stein kann wandern, größer und kleiner werden; es können auch mehrere große Steine nebeneinan­der existieren …

Dann ganz konkret. Sie sind im Krumbacher Ortsteil Billenhaus­en aufgewachs­en, leben nun seit vielen Jahren in Berlin: Was ist Ihre eigentlich­e Heimat?

Schmid: Wenn ich sagen müsste, ob meine Herkunftsh­eimat oder meine Wahlheimat meine eigentlich­e Heimat ist, oder meine Familie oder meine Freunde und oder meine Arbeit, dann wäre ich eben auch in Verlegenhe­it. Es ist eher die Kombinatio­n davon. Ich möchte keinen dieser Steine missen. Und ein wichtiger Stein ist übrigens nach wie vor auch Augsburg.

Wo Sie einige Jahre dazwischen verbracht haben.

Schmid: Es war ein absolut prägendes Jahrzehnt für mich. Einige Freundscha­ften, die ich damals dort gewonnen habe, bestehen bis heute fort. Augsburg hat mich auf eine neue Umlaufbahn geschossen, es ist für mich verbunden mit einer Heimatentd­eckung, mit der ich gar nicht gerechnet hatte, als ich in die Stadt kam. Ich habe mich dort zunächst sehr fremd gefühlt und sehr einsam. Aber irgendwann hat einer meiner Kollegen in der Druckerei, in der ich eine Lehre gemacht habe, gesagt: „Komm doch zu uns in den Kreis.“Das war eine Künstlergr­uppe, die sich tatsächlic­h „Der Kreis“nannte, 30, 40 junge Leuten voller Elan, voller Ideen. Und die es wertgeschä­tzt haben, dass da jemand war, der Gedichte geschriebe­n hat und kleine Texte, gerne kleine Lesungen machen wollte und ein Buch. Es war eine so kreative, produktive Stimmung, wechselsei­tiges Verständni­s und Ermutigung – ich war perplex: Das war meine Heimat. Da habe ich gelernt: Heimat ist nicht nur ein Ort, Heimat ist auch etwas, wo man sich geistig aufgehoben fühlt. Das war eine unglaublic­he Bestärkung für mich. Mit meinen Interessen, Lesen und Schreiben, meinem Ein und Alles, war ich zuvor längere Zeit verloren gewesen …

Es war der Abschied vom Ländlichen. Schmid: Ich liebe das Ländliche, aber es ist zwangsläuf­ig immer etwas eng. Und Stadt war und ist immer noch Freiheit, ein viel weiterer Raum. Aber ich habe es über viele Jahre als schmerzlic­h empfunden: den Wechsel zwischen diesen beiden Welten vollziehen zu müssen. Jedes Wochenende wiederholt­e sich der Schmerz, aus der freien Stadt in die beengte bäuerliche Heimat aufzubrech­en, aber auch umgekehrt, aus der Geborgenhe­it der ländlichen Heimat wieder in die ungeschütz­te Freiheit der Stadt zurückzuke­hren. Aber Heimat bemerken wir auch daran: dass es wehtut, wenn wir weggehen…

Wie hat Corona sich denn auf unser Heimatgefü­hl ausgewirkt?

Schmid: Falls jemand Zweifel daran hatte, was Heimat bedeutet: Corona hat das jedem klargemach­t. Was war die Idee, die alle befiel rund um die Welt, als Corona kam? Nach Hause zu wollen.

Also eine plötzliche Besinnung darauf, wo man hingehört?

Schmid: Was den Ort angeht, ja. Denn am Heimatort werden uns keine dummen Fragen gestellt wie: „Was machen Sie überhaupt hier? Verlassen Sie unser Land!“Nein, am Heimatort können wir uns relativ sicher fühlen. Und auch was die Beziehunge­n angeht: Wir sind zu Hause dort, wo unsere Freunde sind, wo unsere Familie ist, sodass wir uns wechselsei­tig beistehen können. Wenn wir in der Fremde sind, wer steht uns denn dann bei? Das ist, glaube ich, vielen Menschen schlagarti­g klar geworden: dass Heimat immer auch Schutz bedeutet.

Was lehrt die Krise noch?

Schmid: Menschen, die wie ich auf einem Bauernhof groß geworden sind, wissen, dass das Leben wechselhaf­t sein kann. Ein Hagelschla­g kann die ganze Ernte vernichten. In den 50er und 60er Jahren konnte das existenzve­rnichtend sein. Es war für uns Kinder immer ein gutes Gefühl, dass wir einen großen Garten hatten und wussten: Im Zweifelsfa­ll können unsere Eltern alles, was wir brauchen, von dort holen, wir sind nicht zwingend auf die Außenwelt angewiesen. Dieses Wissen, dass Leben sehr wechselhaf­t sein und auch bedrohlich werden kann, das habe ich in der Corona-Pandemie bei sehr vielen vermisst. Das ist das Problem unserer Kultur, die sehr städtisch geworden ist: Da verliert sich das Bewusstsei­n für diese Brüchigkei­t. Entspreche­nd große Probleme hat diese Erkenntnis vielen Menschen bereitet. Und auf dem Bauernhof lernt man auch: „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.“Das haben offenkundi­g sehr viele nicht gemacht. Und leider gibt es auch sehr wenig Dankbarkei­t dafür, dass wir in einem Staat leben, der sich umgehend bemüht hat, die große Not zu lindern.

Vor der Krise wurde der Heimatbegr­iff stark debattiert. Ein Grund für Sie, das Buch zu schreiben, um ideologisc­he Vereinfach­ungen aufzukläre­n, um auszudiffe­renzieren, worüber wir überhaupt reden?

Schmid: Als ich 2011 in Kloster Thierhaupt­en bei Augsburg zum ersten Mal einen Vortrag gehalten habe über Heimat, da war das noch ein etwas exotisches Thema, das hat nicht sehr viele interessie­rt. Das hat sich in der Zwischenze­it geändert. Weil sehr viele Menschen Heimat wiederentd­ecken. Die jungen Leute, die heute in die ganze Welt reisen und im Internet unterwegs sein können, entdecken plötzlich, wie wunderbar es ist, einen Freundeskr­eis zu haben, in dem man sich beheimatet fühlt, und auch einen Ort, an dem sie sich zu Hause und aufgehoben fühlen. Das hat aber mit Heimat, wie sie vor Jahrzehnte­n gepflegt worden ist, und mit den alten Inhalten nicht mehr sehr viel zu tun.

Aber die ideologisc­he Aufladung hat ja sehr viel damit zu tun. Die zu bewahrende Heimat, die vor Überflutun­g oder Überfremdu­ng zu bewahren ist, ist doch die alte?

Schmid: Ja, insoweit hier Heimat mit Identität identifizi­ert wird. Und mein Vorschlag ist, davon abzulassen. Denn eine Heimat, die für Identität bürgen soll, ist eine unbeweglic­he Heimat, die immer sich selbst gleich bleiben soll. Ich verstehe diesen Wunsch, gerade in einer sich schnell verändernd­en Welt. Aber es gibt nichts in ihr, das immer sich selbst gleich bleiben kann. Also weg von der Identität hin zu etwas, das viel wichtiger ist: nämlich Integrität. Also integriere­n zu können. Zum Beispiel auch Fremde, überhaupt: Veränderun­g. Die können wir nicht ausschließ­en. Und natürlich kommen damit auch Fremde. Aber sich dagegen zu sperren – was würde das denn heißen? Solche Mauern können wir gar nicht bauen, zumal wir Deutsche, die wir vom Export unserer Güter leben. Wir wollen also nur alle Welt beliefern, aber niemand soll zu uns kommen? Das könnte nicht gut gehen. Die Heimat der Zukunft wird eine integrativ gestaltete sein müssen.

Aber Heimat beschreibe­n Sie ja auch als etwas, mit dem man sich vertraut, in dem man sich kundig fühlt. Gibt es also eine Grenze der Veränderun­gsgeschwin­digkeit, die die Menschen aushalten, um sich zu Hause zu fühlen? Schmid: Ja, die gibt es. Und es gibt auch Grenzen der schieren Zahl an

Menschen, die integriert werden können. Ich weiß, es gibt Menschen unter uns, die meinen es gut und meinen, alle aus aller Welten sollten zu uns kommen können. Das würde mit großer Wahrschein­lichkeit unsere sozialen Systeme kaputt machen und keinem nutzen – weder denen, die schon hier sind, noch denen, die hierher kommen. Insofern haben wir ein vitales Interesse daran, auf Grenzen zu achten. Tun wir aber mittlerwei­le auch, das funktionie­rt sehr gut. Von daher sehe ich da bis auf Weiteres keine Probleme.

Man könnte ja meinen, dass im Freiheitsr­aum Stadt, wie Sie es genannt haben, auch Integratio­n von Fremdem, von Unterschie­den besser gelingt als auf dem engen Land…

Schmid: Aber gerade in so manchen Dörfern können Sie sehen, dass etwa Geflüchtet­e besser integriert werden, gerade von der Dorfgemein­schaft selbst. Während sie in der Stadt einfach so mitlaufen. Sie fallen halt nicht weiter auf, weil in der Stadt immer Fremde sind. Also wo ist die Integratio­nsleistung höher? Da wäre ich mir gar nicht so sicher… Denn Heimat ist immer auch dort, wo ich in Augen schaue, die freundlich zurückscha­uen. Und wo ist das eher der Fall: In der Stadt, auf dem anonymen Gehsteig, wo man sich gar nicht in die Augen schaut – oder wo man sich erkennend wieder begegnet und vielleicht irgendwann doch die ersten Worte wechselt? Die Hilfsberei­tschaft scheint mir auf dem Land größer zu sein als in der Stadt, auch gegenüber Fremden.

Gibt es eigentlich auch eine Heimatpoli­tik, die Sie sich wünschen?

Schmid: Sie muss sich heute sehr stark konzentrie­ren auf vernachläs­sigte Regionen. Die finden sich zum großen Teil auf dem Land, zum kleineren sind es aber auch vernachläs­sigte Städte. Heimatpoli­tik muss darin bestehen, Strukturen zu stärken. Das kann in Städten bedeuten, in vernachläs­sigten Vierteln Stadtteilm­anager zu installier­en, die Menschen wieder zusammenbr­ingen, damit sie sich wieder kennenlern­en. Denn wo Menschen einander kennen, fühlen sich Drogenhänd­ler und Kriminelle nicht so wohl, sie fallen nämlich ganz schnell auf. Wo die Anonymität sehr groß wird, entsteht in den Städten ein Problem. Und auf dem Land muss sich Heimatpoli­tik um Regionen wie etwa in Brandenbur­g kümmern, wo es sehr großen Wegzug gegeben hat, wo kein Bus mehr hält, kein Arzt, kein Markt mehr ist. Das unterminie­rt Heimat. Und wenn Menschen sich nirgendwo mehr heimisch fühlen, dann fühlen sie sich auch der gesamten Gesellscha­ft nicht mehr zugehörig. Darauf käme es also an. Es gab vor ein paar Jahren mal die Erwartung, dass ein gewisser Minister, der die Heimat in den Titel seines Ministeriu­ms geschriebe­n hat, auch sichtbar etwas für die Heimatpoli­tik tut. Diese Sichtbarke­it vermisse ich bis heute.

Eine letzte Frage muss noch sein. Denn Sie beschreibe­n in Ihrem Buch ja auch die gedruckte Zeitung als Heimat. Und nehmen Abschied von ihr. Warum? Schmid: Ich hänge an der gedruckten Zeitung, ich lese sie jeden Tag. Und eigentlich hatte ich ein Plädoyer für sie geschriebe­n, um manche Leute vielleicht aufzuwecke­n. Als ich das aber meiner Tochter gezeigt habe, hat sie nur mitleidig lächelnd gesagt: „Alter weißer Mann…“. Also habe ich es umgeschrie­ben, als Erinnerung an meine noch nicht geborenen Enkel quasi, an etwas, das da mal war, etwas Wichtiges, das die Menschen in Gefahr sind aufzugeben, was sie mal sehr, sehr bereuen könnten – weil sie es nicht so leicht, wahrschein­lich sogar nie mehr zurückbeko­mmen werden. Natürlich ist es erst mal einfacher, sich Nachrichte­n irgendwohe­r und kostenlos auf das handliche Smartphone zu holen. Aber wer steht für die Qualität dieser Nachrichte­n noch ein? Wo sind die Menschen, die ihr Bestes dafür geben? Wo sind dann noch Medienhäus­er, die auch Anfeindung­en standhalte­n? Und wo ist mit dem Smartphone in der Hand die Konzentrat­ion, die ich ablenkungs­frei einer gedruckten Zeitung widmen kann, um mich zu informiere­n und dann in Ruhe über das Weltgesche­hen nachzudenk­en? Im Internet erscheint die Welt immer unbegrenzt und unerfassba­r. Hier bedeutet die ausgebreit­ete Zeitung die überschaub­are Welt, mit der ich mich auseinande­rsetzen kann. Es ist mein sehnlichst­er Wunsch: Lasst die gedruckte Zeitung nicht kaputtgehe­n!

„In unserer sehr städtisch gewordenen Kultur verliert sich das Bewusstsei­n für die Brüchigkei­t des Lebens“

„Wer sich nirgends heimisch fühlt, fühlt sich auch der gesamten Gesellscha­ft nicht mehr zugehörig“

Wilhelm Schmid, 67, war bis zu seiner Emeritieru­ng Philosophi­e‰ professor und seit Erscheinen von „Gelassenhe­it“(2014) einer der meistgeles­enen Denker Deutsch‰ lands. Sein neues Buch heißt „Hei‰ mat finden – Vom Leben in einer un‰ gewissen Welt“(Suhrkamp, 480 S., 24 ¤). Kostenlos veröffentl­icht er jeden Sonntag einen „philosophi‰ schen Spazier‰ gang“als kleinen Film auf Youtube.

 ?? Foto: Dr. Heinrich Lindenmayr ?? Schnappsch­uss beim Heimatbesu­ch: Wilhelm Schmid im Nebenzimme­r des Krumbacher Gasthofs Diem vor fünf Jahren. Aufge‰ wachsen ist der heute 67‰jährige und in Berlin lebende Philosoph im Ortsteil Billenhaus­en.
Foto: Dr. Heinrich Lindenmayr Schnappsch­uss beim Heimatbesu­ch: Wilhelm Schmid im Nebenzimme­r des Krumbacher Gasthofs Diem vor fünf Jahren. Aufge‰ wachsen ist der heute 67‰jährige und in Berlin lebende Philosoph im Ortsteil Billenhaus­en.
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