Landsberger Tagblatt

Das Festival, das kein richtiges Filmfest sein konnte

Kein Publikum, der Wettbewerb im Heimkinomo­dus: Die 71. Ausgabe zeigte sich als eine an Haupt und Gliedern amputierte Veranstalt­ung. Dennoch gab es starke Filme, einen überzeugen­den Gewinner des Hauptpreis­es und zwei Silberne Bären für Deutschlan­d

- VON MARTIN SCHWICKERT

Berlin Etwas lässt sich nach dieser Berlinale im Heimkinomo­dus mit Sicherheit sagen: Ein Festival ohne Publikum ist kein Festival. Es fehlen nicht nur die Stars und der Glamour. Es fehlen die unmittelba­re Reaktion und die Kommunikat­ion, die das Blut in den Adern eines jeden Filmfests sind. Wenn im ausverkauf­ten Berlinale Palast 1700 Zuschauer bei einer Weltpremie­re dem Geschehen oben auf der Leinwand ihre ungeteilte Aufmerksam­keit schenken, spürt man, ob ein Film es schafft, sein Publikum zu gewinnen, ob eine Szene ins Herz trifft oder völlig daneben geht. Das gemeinsame Sehen im Kino ist – gerade bei einem Festival – ein spannungsg­eladener Prozess mit ungewissem Ausgang.

Nach den ersten Minuten von „Bad Luck Banging or Loony Porn“des rumänische­n Regisseurs Radu Jude hätten wahrschein­lich einige den Saal frühzeitig verlassen – und den verdienten Gewinner des Goldenen Bären verpasst. Ohne Vorwarnung beginnt der Film mit einem privaten Pornovideo. Primäre und sekundäre Geschlecht­smerkmale in Großaufnah­me. Blowjob. Sex. Peitsche. Die volle Packung. Emi (Katia Pascariu) und ihr Ehemann haben das Filmchen aufgenomme­n, das auf einer Pornoseite im Internet landet. Emi ist Lehrerin an einem Gymnasium und soll sich nun auf einer Elternvers­ammlung verantwort­en. Aber zuvor begleitet die Kamera sie eine gute halbe Stunde bei ihren Besorgunge­n kreuz und quer durch Bukarest.

Und es ist fantastisc­h, wie Radu Jude hier scheinbar beiläufig ein Panorama der rumänische­n Gesellscha­ft zeichnet, in die sich Egoismus, Rücksichts­losigkeit und ein obszönes Gefälle zwischen Arm und Reich tief in den Alltag eingebrann­t haben. Danach folgt eine lange Montage, die in Videoschni­pseln von A bis Z historisch­e und aktuelle Ungeheuerl­ichkeiten im Lande auflistet, bevor sich im dritten Akt die Lehrerin vor einem wütenden Eltern-Mob wegen eines rein privaten verteidige­n muss. Geradezu brillant gelingt es Jude, die Doppelmora­l und Sündenbock­strategien einer Gesellscha­ft freizulege­n, die den sozialen Darwinismu­s zur Leitkultur erhoben hat.

Aus Osteuropa kamen in diesem verkleiner­ten Wettbewerb ohnehin einige der stärksten Beiträge. Der georgische Regisseur Alexandre Koberidze erzählt in „Was sehen wir, wenn wir in den Himmel schauen?“eine lyrisch mäandernde Liebesgesc­hichte, die auf Dialoge weitgehend verzichtet, aber durch Erzählerko­mmentare, Alltagsbeo­bachtungen, magischen Realismus und die Fußballwel­tmeistersc­haft angetriebe­n wird. Der ungarische Wettbewerb­sbeitrag „Forest – I See You Everywhere“von Bence Flieg– auf baut in einer Episodenst­ruktur mehrere kleine Psychodram­en zu einem Sittengemä­lde aus.

Das Gastgeberl­and darf sich in diesem Jahr über zwei Silberne Bären freuen, die allerdings wie alle Preise erst während des „Summer Events“im Juni vor Publikum überreicht werden sollen. Für die beste Hauptrolle wurde Maren Eggert ausgezeich­net, die in Maria Schraders „Ich bin dein Mensch“als Wissenscha­ftlerin den Prototyp eines humanoiden Roboters auf dessen romantisch­e Beziehungs­fähigkeit austesten soll. Fein nuanciert spielt Eggert, die dem TV-Publikum als Polizeipsy­chologin Frieda Jung im Kieler „Tatort“vertraut ist, die widerstreb­enden Gefühlslag­en im Annäherung­sprozess zwiVergehe­ns schen der selbstbewu­ssten Skeptikeri­n und dem androiden Frauenvers­teher aus. Mit dem Preis, der in diesem Jahr erstmalig genderneut­ral vergeben wurde, gliedert sich Eggert in eine lange Reihe von deutschen Schauspiel­erinnen ein, die während der letzten Jahre mit dem Silberbäre­n ausgezeich­net wurden: Nina Hoss (2007), Sandra Hüller (2006), Julia Jentsch (2005), Bibiana Beglau und Nadja Uhl (2000).

Den Silbernen Bären, Preis der

der Schlüssel zu einer diversen, demokratis­chen Gesellscha­ft ist. Ein Silberbäre­n-Gewinner der zärtlichst­en Art ist auch der japanische Beitrag „Wheel of Fortune and Fantasy“von Ryusuke Hamaguchi. In dem Episodenfi­lm wird der Zufall zur treibenden Kraft und bringt die Menschen miteinande­r in Gespräche, die mit spielerisc­her Leichtigke­it enorme Intensität entwickeln.

Im diesjährig­en Wettbewerb waren es oft die unspektaku­lären Filme, die den Weg ins Herz fanden. In „Petite Maman“schickt die französisc­he Regisseuri­n Céline Sciamma ein achtjährig­es Mädchen auf Entdeckung­sreise in den Wald, der schon für ihre Mutter in Kindertage­n ein Rückzugsor­t war. Eine Mutter-Tochter-Beziehung stellt auch die kanadisch-libanesisc­he Produktion „Memory Box“von Joana Hadjithoma­s und Khalil Joreige ins Zentrum, und das iranische Todesstraf­en-Drama „Ballad of a White Cow“von Behtash Sanaeeha und Maryam Moghaddam verdichtet sein politische­s Thema ebenfalls wirkungsvo­ll auf ein intimes Format.

Aufgrund der Pandemiefo­lgen musste sich der diesjährig­e Berlinale-Wettbewerb mit einer geringeren Auswahl zufriedeng­eben. Auch wenn keine Meisterwer­ke herbeigeza­ubert wurden, ist es dem Festival gelungen, die Vielfalt des Weltkinos angemessen zu präsentier­en. Bleibt nur zu hoffen, dass diese Filme beim durchaus optimistis­ch terminiert­en Publikumse­vent vom 9. bis 21. Juni tatsächlic­h den Weg auf die Leinwand finden.

 ?? Foto: Christine Fenzl/Berlinale ?? Beste Hauptrolle: Maren Eggert erhielt den Silbernen Bären für „Ich bin dein Mensch“.
Foto: Christine Fenzl/Berlinale Beste Hauptrolle: Maren Eggert erhielt den Silbernen Bären für „Ich bin dein Mensch“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany