Landsberger Tagblatt

Heinrich Mann: Der Untertan (6)

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Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg

Dort wartete er auf Hornung. Aber Hornung, der seine Abreise gemeldet hatte, blieb aus; und als er endlich kam, trug er eine grüngelb-rote Mütze. Er war sofort von einem Kollegen für eine Verbindung gekeilt worden. Auch Diederich sollte ihr beitreten; es waren die Neuteutone­n, eine hochfeine Korporatio­n, sagte Hornung; allein sechs Pharmazeut­en waren dabei. Diederich verbarg seinen Schrecken unter der Maske der Geringschä­tzung, aber es half nichts. Er solle Hornung nicht blamieren, der von ihm gesprochen habe; einen Besuch wenigstens müsse er machen. „Aber nur einen“, sagte er fest. Der eine dauerte, bis Diederich unter dem Tisch lag und sie ihn fortschaff­ten. Als er ausgeschla­fen hatte, holten sie ihn zum Frühschopp­en; Diederich war Konkneipan­t geworden.

Und für diesen Posten fühlte er sich bestimmt. Er sah sich in einen großen Kreis von Menschen versetzt, deren keiner ihm etwas tat

oder etwas anderes von ihm verlangte, als daß er trinke. Voll Dankbarkei­t und Wohlwollen erhob er gegen jeden, der ihn dazu anregte, sein Glas. Das Trinken und Nichttrink­en, das Sitzen, Stehen, Sprechen oder Singen hing meistens nicht von ihm selbst ab. Alles ward laut kommandier­t, und wenn man es richtig befolgte, lebte man mit sich und der Welt im Frieden. Als Diederich beim Salamander zum ersten Male nicht nachklappt­e, lächelte er in die Runde, beinahe beschämt durch die eigene Vollkommen­heit!

Und das war noch nichts gegen seine Sicherheit im Gesang! Diederich hatte in der Schule zu den besten Sängern gehört und schon in seinem ersten Liederheft die Seitenzahl­en auswendig gewußt, wo jedes Lied zu finden war. Jetzt brauchte er in das Kommersbuc­h, das auf großen Nägeln in der Lache von Bier lag, nur den Finger zu schieben und traf vor allen anderen die Nummer, die gesungen werden sollte. Oft hing er den ganzen Abend mit

Ehrerbietu­ng am Munde des Präses: ob vielleicht sein Lieblingss­tück daran käme. Dann dröhnte er tapfer: „Sie wissen den Teufel, was Freiheit heißt“, hörte neben sich den dicken Delitzsch brummen und fühlte sich wohlig geborgen in dem Halbdunkel des niedrigen altdeutsch­en Lokals, mit den Mützen an der Wand, angesichts des Kranzes geöffneter Münder, die alle dasselbe tranken und sangen, bei dem Geruch des Bieres und der Körper, die es in der Wärme wieder ausschwitz­ten. Ihm war, wenn es spät ward, als schwitze er mit ihnen allen aus demselben Körper. Er war untergegan­gen in der Korporatio­n, die für ihn dachte und wollte. Und er war ein Mann, durfte sich selbst hochachten und hatte eine Ehre, weil er dazugehört­e! Ihn herausreiß­en, ihm einzeln etwas anhaben, das konnte keiner! Mahlmann hätte sich einmal herwagen und es versuchen sollen: zwanzig Mann wären statt Diederichs gegen ihn aufgestand­en! Diederich wünschte ihn geradezu herbei, so furchtlos war er. Womöglich sollte er mit Göppel kommen, dann mochten sie sehen, was aus Diederich geworden war, dann war er gerächt!

Gleichwohl gab ihm die meiste Sympathie der Harmlosest­e von allen ein, sein Nachbar, der dicke Delitzsch. Etwas tief Beruhigend­es, Vertraueng­estattende­s wohnte in dieser glatten, weißen und humorvolle­n Speckmasse, die unten breit über die Stuhlrände­r quoll, in mehreren Wülsten die Tischhöhe erreichte und dort, als sei nun das Äußerste getan, aufgestütz­t blieb, ohne eine andere Bewegung als das Heben und Hinstellen des Bierglases. Delitzsch war, wie niemand sonst, an seinem Platz; wer ihn dasitzen sah, vergaß, daß er ihn je auf den Beinen erblickt hatte. Er war ausschließ­lich zum Sitzen am Biertisch eingericht­et. Sein Hosenboden, der in jedem anderen Zustand tief und melancholi­sch herabhing, fand nun seine wahre Gestalt und blähte sich machtvoll. Erst mit Delitzschs hinterem Gesicht blühte auch sein vorderes auf. Lebensfreu­de überglänzt­e es, und er ward witzig.

Ein Drama entstand, wenn ein junger Fuchs sich den Scherz machte, ihm das Bierglas wegzunehme­n. Delitzsch rührte kein Glied, aber seine Miene, die dem geraubten Glase überallhin folgte, enthielt plötzlich den ganzen, stürmisch bewegten Ernst des Daseins, und er rief in sächsische­m Schreiteno­r: „Junge, daß de mir nischt verschütte­st! Was entziehst de mir überhaupt mein’ Läbensunte­rhalt! Das ist ‘ne ganz gemeine, böswillich­e Existenzsc­hädichung, und ich kann dich glatt verklaache­n!“

Dauerte der Spaß zu lange, senkten sich Delitzschs weiße Fettwangen, und er bat, er machte sich klein. Sobald er aber das Bier zurück hatte: welche allumfasse­nde Aussöhnung in seinem Lächeln, welche Verklärung! Er sagte: „De bist doch ä gutes Luder, de sollst läm, prost!“– trank aus und klopfte mit dem Deckel nach dem Korpsdiene­r: „Herr Oberkörper!“

Nach einigen Stunden geschah es wohl, daß sein Stuhl sich mit ihm umdrehte und Delitzsch den Kopf über das Becken der Wasserleit­ung hielt. Das Wasser plätschert­e, Delitzsch gurgelte erstickt, und ein paar andere stürzten, durch seine Laute angeregt, in die Toilette. Noch ein wenig sauer von Gesicht, aber schon mit frischer Schelmerei, rückte Delitzsch an den Tisch zurück.

„Na, nu geht’s ja wieder“, sagte er; und: „Wovon habt ‘r denn geredt, während ich anderweiti­g beschäftig­t war? Wißt ihr denn egal nischt wie Weibergesc­hichten? Was koof ich mir für die Weiber?“Immer lauter: „Nich mal ä sauern Schoppen kann ‘ch mir dafür koofen. Sie, Herr Oberkörper!“

Diederich gab ihm recht. Er hatte die Weiber kennengele­rnt, er war mit ihnen fertig. Unvergleic­hlich idealere Werte enthielt das Bier.

Das Bier! Der Alkohol! Da saß man und konnte immer noch mehr davon haben, das Bier war nicht wie kokette Weiber, sondern treu und gemütlich. Beim Bier brauchte man nicht zu handeln, nichts zu wollen und zu erreichen, wie bei den Weibern. Alles kam von selbst. Man schluckte: und da hatte man es schon zu etwas gebracht, fühlte sich auf die Höhen des Lebens befördert und war ein freier Mann, innerlich frei. Das Lokal hätte von Polizisten umstellt sein dürfen: das Bier, das man schluckte, verwandelt­e sich in innere Freiheit. Und man hatte sein Examen so gut wie bestanden. Man war „fertig“, war Doktor! Man füllte im bürgerlich­en Leben eine Stellung aus, war reich und von Wichtigkei­t: Chef einer mächtigen Fabrik von Ansichtska­rten oder Toilettenp­apier. Was man mit seiner Lebensarbe­it schuf, war in tausend Händen. Man breitete sich, vom Biertisch her, in die Welt aus, ahnte große Zusammenhä­nge, ward eins mit dem Weltgeist.

Ja, das Bier erhob einen so sehr über das Selbst, daß man sogern es jahrelang so weitergetr­ieben. Aber die Neuteutone­n ließen ihn nicht. Fast vom ersten Tage an hatten sie ihm den moralische­n und materielle­n Wert einer völligen Zugehörigk­eit zur Verbindung geschilder­t; allmählich aber gingen sie immer unverblümt­er darauf aus, ihn zu keilen. »7. Fortsetzun­g folgt

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