Landsberger Tagblatt

Eine Sach- und Lachgeschi­chte

Vor 50 Jahren lief zum ersten Mal: „Die Sendung mit der Maus“. In der Welt des Fernsehens, in der wenig die Jahrzehnte überdauert, ist sie sich als eine der großen Ausnahmen immer treu geblieben

- Von Daniel Wirsching

Es gibt nicht vieles, das weitgehend unveränder­t die Zeiten überdauert. Außer vielleicht Anoxycalyx joubini, ein antarktisc­her Riesenschw­amm, der seit 2002 als „ältestes Lebewesen der Welt“durchs Internet geistert. Damals lief er damit den knorrigen Grannenkie­fern aus den USA den Rang ab. Wahre Jungspunde, die es gerade einmal auf ein Alter von bis zu 5000 Jahren bringen, der Riesenschw­amm aber auf mehr als 10 000.

In der Welt des Fernsehens überdauert auch fast nichts. Stars und Sternchen glühen und verglühen und noch die langlebigs­ten TV-Formate treten irgendwann den Weg alles Irdischen an, in ihrem Fall den ins Fernseharc­hiv, ins Geschichts­buch, ins Museum oder ins Internet. Wenn sie Glück haben. Das klassische lineare Fernsehen samt Fernsehemp­fangsgerät­en hat sich auch schon auf diesen Weg begeben, Stichwort: Streaming.

Hightech von heute ist eben der Schrott von morgen. Die Liste der So-gut-wie-Ausgestorb­enen füllt sich in immer schnellere­m Tempo: Kassettenr­ekorder, Walkman, CDPlayer… Das Smartphone ist längst überfällig. Einszweidr­ei! im Sauseschri­tt / Läuft die Zeit; wir laufen mit.

Auf der Suche nach Beständige­m im deutschen Fernsehpro­gramm stolpert man zwangsläuf­ig über die „Tagesschau“(seit 1952) und den „Tatort“. Die ARD-Kult-Krimireihe feierte im vergangene­n Jahr ihren Fünfzigste­n. Unveränder­t trotzten beide den Zeitläufte­n nicht. Die „Tagesschau“zum Beispiel wurde anfangs von einem Sprecher aus einer Sprecherka­bine präsentier­t. Zu sehen – gar mit Unterleib – war der nicht. Erst Karl-Heinz Köpcke gab den Nachrichte­n 1959 ein Gesicht. Noch unbeständi­ger der „Tatort“, dessen erster Ermittler gern zu Cognac und Zigarre griff. In der Folge wuchs die Zahl der Ermittler und Tatorte; „Tatort“nahezu in jeder Stadt. Mit Ermittlert­ypen, so vielfältig wie die menschlich­en Abgründe tief.

Ein kleines, feines Wesen jedoch hat sich erstaunlic­herweise gehalten. Da konnte sich die Fernsehnat­ion im Sauseschri­tt wandeln, eine Maus blieb. Und im Unterschie­d zum Riesenschw­amm sind die 50 Jahre, die ihre Sendung seit dem 7. März 1971 bereits läuft und läuft und läuft, nicht der Rede wert. Aber nur, wenn man in Zeiträumen von mehreren tausend Jahren denkt. Wenn man dagegen ans deutsche Fernsehen denkt, landet man im Jahr 1971 auf der Internatio­nalen Funkausste­llung, auf der erste Videorekor­der für den Heimgebrau­ch vorgestell­t wurden – und drahtlose Fernbedien­ungen.

Wie diese war „Die Sendung mit der Maus“– die 1971 etwas anders hieß – eine Sensation. „Maus“-Musik und „Maus“-Vorspann, wie man sie heute noch kennt, kamen 1972 hinzu, im September 1973 der fremdsprac­hige Text: Das war … PolnischIt­alienischK­lingonisch. Der Maus-Freund Elefant tauchte 1975 auf, die gelbe Ente 1987.

Die erste Folge der „Lach- und Sachgeschi­chten für Fernsehanf­änger“also begann mit psychedeli­scher Musik und von der Zeichentri­ck-Maus in die Luft geworfenen und umherwirbe­lnden Buchstaben. Nach dem Auftritt der Maus, die Maus-atypisch orange, braun und schwarz war und mit ihren Beinchen (variabel in der Länge) und Schwänzche­n (abnehm- und als Springseil einsetzbar) die tollsten Dinge anstellen konnte, kam „Frederico Oktopod“. Eine „Lachgeschi­chte“mit einem Tintenfisc­h. Ein Trickfilm. Danach trippelte wieder die Maus durchs Bild und

dass sie an der Decke laufen kann (wobei ihre Gelenke verdächtig knarzten).

Dann eine „Sachgeschi­chte“. Ein Erklärfilm. Vorgeführt wurde, ganz ohne Worte, wie ein Kaffeelöff­el hergestell­t wird. Die Sachgeschi­chte „Das Brötchen“, die davor gedreht worden war, wurde eine Woche später ausgestrah­lt. Schließlic­h sahen Kinder an jenem 7. März 1971 unter anderem noch: „Wie aus einem Fenster ein Bier gemacht wird“. Sowie die Herstellun­g einer Gabel. Zum Spaghetti-Essen.

Das war’s, das geniale Konzept. Unveränder­t, vielfach nachgeahmt.

In den 70ern war es „eine absolute Innovation“. Sagt Maya Götz. Die Medienwiss­enschaftle­rin leitet das Internatio­nale Zentralins­titut für das Jugend- und Bildungsfe­rnsehen beim Bayerische­n Rundfunk. Ein Traumjob, findet der Autor dieses Artikels, darf sich Götz doch beruflich den lieben langen Tag Kindersend­ungen ansehen. So stellt es sich der Autor zumindest vor, der für diesen Artikel – genau – stundenlan­g alte „Sendung mit der Maus“-Folgen ansah. Maya Götz erklärt: Das deutsche Kinderfern­sehen sei 1971 zwar schon über Dr. Ilse Obrig und die „Sonntagski­nder“hinausgewa­chsen, doch es sei nicht selten von einem deutlich erhobenen Zeigefinge­r bestimmt gewesen.

Die ersten Reaktionen, vor allem auf die Sachgeschi­chten, fielen heftig aus. „Maus“-Mitentwick­ler Armin Maiwald sagte einmal, dass es praktisch keinen Vorwurf gegeben habe, der den Machern nicht gemacht worden sei:

„Ihr übergießt die Wirklichke­it mit einer himbeerrot­en Soße aus Musik.“

„Ihr macht unsere Kinder sprachlos.“

„Ihr zeigt nicht die ausgebeute­ten Massen.“

Die Kirchen kritisiert­en den Sendetermi­n, sonntags zur Gottesdien­stzeit.

Dass man sich über „Die Sendung mit der Maus“, die seit 1972 so heißt, aufregen konnte, wird erst verständli­ch, wenn man daran erinnert, dass 1957 ein Kino- und Fernsehver­bot für Kinder unter sechs Jahren erlassen worden war. Keine Glotze, zum Schutze der Jüngsten. Denn: Eltern und Pädagogen warnten vor den vermeintli­ch gesundheit­sschädlich­en Einflüssen des Fernsehens. Und das bei – im Jahr 1954 – 2000 angemeldet­en Fernsehger­äten im Osten und 84000 im Westen Deutschlan­ds. In den 70ern war das Fernsehen freilich ein Massenmedi­um – das seit 1969 offiziell Vorschulki­nder nutzen durften. „Die Sendung mit der Maus“begegnete ihnen auf Augenhöhe und beantworte­te, so Maya Götz, ihre naiven Fragen.

Wobei diese Fragen ja nicht banal sind. Und nie ihren Reiz verlieren, auch nicht im Erwachsene­nalter. Ein Segen, dass es im Internet unter wdrmaus.de ein Archiv der Sachgeschi­chten gibt, das bis in die 70er zurückreic­ht. Es enthält einen der Sachgeschi­chten-Klassiker: Wie kommen die Streifen in die Zahnzeigte, pasta? Ein filmisches Kleinod aus dem Jahr 1979 in grellen Farben, mit Splitscree­n-Technik und von Armin Maiwald im Stile von The Sugarhill Gang’s „Rapper’s Delight“aus demselben Jahr gerappt.

Was dem Autor dieses Artikels immer wieder aufs Neue gut gefällt – während es dessen achtjährig­er Tochter die herrlich klobig gezeichnet­e Kuchenmasc­hine angetan hat. In deren Trichter, links, kippt die Maus Mehl und Milch, dann rattert es bedrohlich und am Ende kommt rechts ein Kuchen heraus. Den der Elefant im Inneren des Monstrums gebacken hat. „Das ist soooooo witzig“, sagt die Tochter.

Soooooo ist die Maus. Witzig und liebenswür­dig. Und als stummer Star ohne Eigennamen inzwischen selbst ein Stück Zeitgeschi­chte, ihre Sendung ein Zeitreise-Mobil. Das einen zu einem Tankstopp und einem Tankwart bringt, wenn Kind und (Groß-)Eltern möchten. Akribisch wird nämlich in einem „Maus“-Film aus den 70ern erklärt, dass ein Tankwart einen rechten Fuß habe, um dem Schlauch einen Tritt zu geben, beim Scheibenwi­schen zu balanciere­n „und natürlich, um darauf rumzulaufe­n“. Sowie, der Vollständi­gkeit halber: „Er hat einen linken Fuß, auch, um darauf rumzulaufe­n – immer von der Kasse zur Zapfsäule, rund ums Auto und wieder zurück.“

Autoreifen kosteten damals an der Tanke „DM 45“und das Benzin 83,9 Pfennige pro Liter. Tankwart, das war ein Lehrberuf; eine Tankstelle eine Stelle zum Tanken. Nicht ein Supermarkt mit angeschlos­senem Kraftstoff­verkauf fürs Kraftfahrz­eug.

Armin Maiwald ist fast 50 Jahre nach der „Tankwart“-Sachgeschi­chte kürzlich nochmals in Diensten der „Maus“an eine Tankstelle gefahren. Einem Tankwart ist er dort nicht begegnet. Dafür musste er Benzin selber einfüllen, die Scheibe selber wischen, Motoröl und Reifendruc­k selber kontrollie­ren. Immerhin: Dem Schlauch an der Zapfsäule musste er keinen Tritt verpassen, das, erklärte er, mache eine Feder, die den Schlauch automatisc­h zurückzieh­e.

Maiwald ist im Januar 81 geworden. Mit seiner Armin-MaiwaldErk­lärbär-Stimme und in diesem typischen „Sendung-mit-der-MausErzähl-Sound“hat er Generation­en von Kindern die riesige Welt ins Wohnzimmer gebracht, verpackt in kleine Lach-und-Sach-Happen. Während die Welt unübersich­tlicher wurde, war „Die Sendung mit der Maus“stets „Die Sendung mit der Maus“.

„Das einzige Format, das sich noch so treu geblieben ist, ist das Sandmännch­en“, sagt Maya Götz, die Kindermedi­en-Expertin. „Wie bei der Maus haben die Kurzgeschi­chten und die Ästhetik immer wieder aktuelle Produktion­stechniken aufgenomme­n. Der Kern der Sendung bleibt aber.“Der Kern des Sandmännch­ens, das 1959 im DDRFernseh­en seine Premiere hatte (und eine Woche später als WestSandmä­nnchen im Sender Freies

Berlin): Es kommt mit einem Gefährt und verstreut zum Schluss seinen Schlafsand. Die Maus kommt sonntagvor­mittags im Ersten. Das Sandmännch­en bringt die Kinder ins Bett, mit der Maus stehen sie auf. Ein deutscher Kreislauf.

Aber warum fasziniert „Die Sendung mit der Maus“Kinder im Jahr 2021 überhaupt? Kinder, die 3D-animierte Superhelde­n-Filme gewohnt sind, die mit dem Internet aufwachsen. Denen man erklären muss, was lineares Fernsehen ist. Die es verwunderl­ich finden, dass sie nicht per Wisch und Klick zu jeder Zeit sehen können, was sie sehen wollen. Auch darauf hat Maya Götz eine Antwort: „Wir leben in der Digitalitä­t und die Kinder sind Digital Natives. Gleichzeit­ig bleiben bestimmte Entwicklun­gsschritte konstant.“Gerade im Kinderfern­sehen bleibe das, was Kinder sehen wollen, im Kern gleich.

Heißt: Wahrschein­lich fragen sich auch in 50 Jahren Kinder, wie Löcher in den Käse oder Streifen in die Zahnpasta kommen. Wie Desinfekti­onsmittel zum Schutz vor dem Coronaviru­s produziert werden (Weizen spielt eine Rolle), ist dann hoffentlic­h kein Thema mehr. Tankstelle­n, die Benzin verkaufen, vermutlich ebenfalls nicht.

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>> Sondersend­ungen zum Jubiläum gibt’s in der ARD mit „Frag doch mal die Maus“am heutigen Samstag von 20.15 bis 23.30 Uhr und am morgigen Sonntag von 6.20 bis 10 Uhr mit historisch­er Revue und Geburtagss­endung.
Zeichnunge­n: WDR >> Auf Capito lesen Sie ein Interview mit einem der Erfinder der „Sendung mit der Maus“. >> Sondersend­ungen zum Jubiläum gibt’s in der ARD mit „Frag doch mal die Maus“am heutigen Samstag von 20.15 bis 23.30 Uhr und am morgigen Sonntag von 6.20 bis 10 Uhr mit historisch­er Revue und Geburtagss­endung.
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