Landsberger Tagblatt

Wenn die Corona‰Maske hilflos macht

Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen leiden besonders unter dem Virenschut­z vor Mund und Nase. Denn ihnen fehlen dadurch ganz wichtige Hinweise

- VON MARKUS BÄR

Markt Wald Tom ist unzufriede­n. Nicht erst seit heute. Eigentlich schon seit Monaten. Der hochgewach­sene junge Mann, 22 Jahre alt, blickt in die Gesichter um ihn herum, die wegen der derzeit geltenden Vorsichtsm­aßnahmen natürlich maskiert sind. Sein Kommentar dazu lautet treffend wie lapidar: „Scheiß Corona“. Nun muss man dazu Folgendes wissen: Tom (er heißt eigentlich anders) hat eine Autismus-Spektrum-Störung. So wie alle Menschen in der Unterallgä­uer Einrichtun­g „Fichtenhau­s Lebensraum“, in der Tom lebt. Eine Einrichtun­g, die besonders von der Corona-Pandemie getroffen ist. Nicht, weil jemand infiziert wäre. Sondern weil Menschen mit einer AutismusSp­ektrum-Störung derzeit erheblich in ihrer Wahrnehmun­g beeinträch­tigt sind. Sie sind darauf angewiesen, im Gesicht des Gegenübers zu lesen. Weil sie Probleme haben, soziale Signale der Außenwelt zu deuten. Aber was passiert, wenn das nicht geht – weil die Gesichter hinter den Masken verdeckt sind?

Alle Welt fragt sich dieser Tage, wann endlich Schluss ist mit den sich nunmehr schon eine gefühlte Ewigkeit hinziehend­en Einschränk­ungen. So geht es auch Tom. „Wann ist Corona endlich vorbei?“, fragt er immer wieder. „Doch die Antwort können wir ihm natürlich nicht geben“, erläutern Marina Sonntag, Leiterin des „Fichtenhau­s Lebensraum“, und Harald Pienle, Geschäftsf­ührer der Einrichtun­g. Mit Schrecken erinnern sie sich noch an die vielen Wochen, in denen die zwölf Bewohner des Fichtenhau­ses aus Sicherheit­sgründen so gut wie keinen Kontakt mehr zur Außenwelt haben durften. Etwa beim ersten Lockdown vergangene­s Jahr. Keine Angehörige durften kommen, kein Einkauf, kein Ausflug war möglich. Das machte viele Bewohner unzufriede­n, manchmal sogar aggressiv. Kein Wunder, wenn man plötzlich wie eingesperr­t ist. „Nur mit uns, dem Personal, bestand Kontakt“, sagt Pienle.

Das Fichtenhau­s befindet sich direkt an der Hauptstraß­e von Anhofen, einem kleinen Ortsteil der Gemeinde Markt Wald. Das keine vier Jahre alte Gebäude ist freundlich und modern eingericht­et, umgeben von einem schönen Garten, der von den Bewohnern rege genutzt wird. Denn Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung brauchen oft viel Zeit und Raum für sich. Zum Beispiel, wenn etwas nicht so gelaufen ist, wie sie das erwartet haben – was diesen Menschen sehr starke Probleme bereiten kann. Das äußert sich zum Beispiel darin, dass sie mit ihrem Ärger das Alleinsein suchen und ihrem Unmut teils mit lauten Tönen Ausdruck verleihen. Manche Bewohner der Einrichtun­g können nicht sprechen, geben Laute von sich, die Außenstehe­nde zunächst nicht deuten können.

Das Fichtenhau­s ist auf eine private Initiative in den 1990er Jahren entstanden und zu einer Spezialein­richtung geworden, die es in dieser Form nur selten gibt. Weil sie ganz besonders auf das Thema Autismus eingeht. Viele der Bewohner haben noch eine zweite oder dritte Diagnose, teils physischer, teils psychiatri­scher Natur. „Viele können sich zwar nicht verbal äußern, aber man kann sich über Gefühl und Empathie mit ihnen verständig­en, wenn man sich auf diese Menschen einlässt“, sagt Marina Sonntag. Die gelernte Erzieherin hat sich zur Fachkraft für Autismus weitergebi­ldet. „Derzeit werden viele Menschen mit ihren besonderen Problemen übersehen. Dazu zählen eben auch Menschen mit einer AutismusSp­ektrum-Störung.“

Zum Glück für die Bewohner hat das Fichtenhau­s nicht nur dem Namen nach eine Beziehung zum Holz, zum Wald. Denn als besonderes therapeuti­sches Angebot zählt die Arbeit im Wald – das gibt es in dieser Form sonst nur noch in Hamburg, sagt Harald Pienle. Schon lange weiß man, dass sinngebend­e Arbeiten und Tätigkeite­n Menschen mit mentalen Problemen Struktur, Zufriedenh­eit und Selbstvert­rauen geben können. So ist das auch bei Menschen mit Autismus wie Tom. Er liebt die Arbeit im Wald. Er weiß alles über Kettensäge­n, hat sogar ein eigenes Modell der bekannten Firma Stiehl, aus Sicherheit­sgründen aber ohne scharfe Kette. Es geht ihm dabei vor allem darum, wie ein Motor funktionie­rt, was etwa ein Wankelmoto­r ist, wo dort die Zündkerzen sitzen. Tom, der aus dem Raum Augsburg stammt, geht Mitarbeite­r Michael Böck im Wald stolz zur Hand. „Die Arbeit macht Spaß“, sagt er. Auch, weil er dabei rauskommt, in die Natur.

Aber natürlich hofft auch er, dass bald wieder das richtige, das ganz normale Leben losgeht. Geimpft ist die gesamte Einrichtun­g zum Glück schon. Einen Corona-Fall hat es bislang weder bei Bewohnern noch beim Personal gegeben. Aber auf das normale Leben, darauf muss auch Tom noch etwas warten.

 ?? Foto: Harald Pienle ?? Tom (rechts) ist glücklich, wenn es zusammen mit Michael Böck vom „Fichtenhau­s“zur Arbeit hinaus in den Wald geht.
Foto: Harald Pienle Tom (rechts) ist glücklich, wenn es zusammen mit Michael Böck vom „Fichtenhau­s“zur Arbeit hinaus in den Wald geht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany