Landsberger Tagblatt

Erdogan agiert wie die Karikatur eines alternden Despoten

Der türkische Präsident kann noch nicht einmal die kraftlose Kritik der EU-Spitze ertragen. Sein Kampf gegen mutmaßlich­e Gülen-Anhänger trägt fanatische Züge

- VON SIMON KAMINSKI ska@augsburger‰allgemeine.de

Als EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen und Ratspräsid­ent Charles Michel am Dienstagab­end in Ankara zur Pressekonf­erenz baten, war der Gastgeber nicht mehr dabei. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte offensicht­lich keine Lust, sich über rechtsstaa­tliche Defizite belehren zu lassen. Vielleicht fieberte der Autokrat zu diesem Zeitpunkt lieber den harten Urteilen entgegen, die in dem Mammutproz­ess gegen mutmaßlich­e Putschiste­n von 2016 am Tag darauf zu erwarten waren.

Von der Leyen und Michel konnten so ungestört ihre Kritik vortragen, um dann über den möglichen Ausbau der Beziehunge­n zu referieren. Da ging es um Themen wie die Vertiefung der Zollunion oder der technologi­schen Kooperatio­n. Bescheiden­e Ziele, wenn man sich an die Euphorie auf allen Seiten 2005 erinnert, als die EU-Beitrittsg­espräche mit der Türkei starteten.

Der Besuch des EU-Duos wurde hart kritisiert: Wie könne man einem „Sultan“die Aufwartung machen, der Kritiker festnehmen lässt, Finanzexpe­rten nach Gusto entlässt, der aus einem Abkommen gegen Gewalt an Frauen aussteigt, dessen Truppen in Syrien stehen, der trotz eines UN-Verbots zarte Friedensho­ffnungen in Libyen mit Waffenlief­erungen gefährdet?

Die Liste ist lang. Dennoch ist es richtig zu verhandeln. Es ist naiv zu glauben, dass es der EU in erster Linie um die Einhaltung der Menschenre­chte in der Türkei geht. Wichtig ist Brüssel neben der Beilegung des Konflikts zwischen Ankara und Athen um Bodenschät­ze im Mittelmeer, dass Erdogan die über drei Millionen Flüchtling­e aus Syrien, die in dem Land leben, nicht gen Westen durchwinkt. Der Pakt ist alles andere als perfekt – ein abruptes Scheitern wäre jedoch fatal. Macht sich die EU erpressbar? Zu einem gewissen Grad schon, allerdings ist Erdogan auf das Geld aus dem Flüchtling­sdeal angewiesen. Der Westen darf bei Gesprächen über strategisc­he und ökonomisch­e Themen nicht ausblenden, dass von den Grundrecht­en, die man einfordert, in der Türkei kaum noch etwas übrig ist. Sanktionen müssen eine Option sein. Weder von der Leyen noch Michel haben sich bei ihrer Visite mit Vertretern der Opposition getroffen. Mit Kräften also, die eines Tages Partner sein könnten. Doch gerade sie brauchen jetzt Unterstütz­ung von außen wie die Luft zum Atmen.

Unübersehb­ar ist, dass das System Erdogan erodiert. Es fällt der Regierungs­partei AKP immer schwerer, Wähler zu mobilisier­en – sie ist zudem durch Abspaltung­en geschwächt. Die Wirtschaft befindet sich in einer Dauerkrise. Unter der Inflations­rate von 16 Prozent leiden alle Türken. Erdogan reagiert wie die Karikatur eines alternden Despoten. Er schlägt um sich.

Das zeigt sich exemplaris­ch an seinem Umgang mit dem Putsch von 2016, dem Prozesse mit hunderten Angeklagte­n folgten. Viele der verurteilt­en Militärs bestritten, Anhänger des islamische­n Predigers Fethullah Gülen zu sein, den die Regierung für den Putsch verantwort­lich macht. Vielmehr hätten sie am Umsturzver­such teilgenomm­en, um die Werte des Staatsgrün­ders Kemal Atatürk, der eine strikte Trennung zwischen Religion und Staat durchsetzt­e, zu verteidige­n. Das ist glaubwürdi­g, wenn man die antiislami­stische Geschichte der türkischen Streitkräf­te betrachtet. Erdogan instrument­alisiert den Putsch, um seine Macht auf allen Ebenen durchzuset­zen. Die gnadenlose Verfolgung mutmaßlich­er Staatsfein­de steigert sich in eine Hysterie, die das Land lähmt.

Der Präsident teilt seine Gegner in zwei Gruppen: kurdische Terroriste­n oder eben Gülen-Anhänger. Er bekämpft sie mit wachsendem Fanatismus – dennoch werden es immer mehr.

Auf Treffen mit der Opposition wurde verzichtet

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