Landsberger Tagblatt

Ist der Tübinger Weg eine Sackgasse?

Mögen die Lockdown-Rufe noch so laut sein: Boris Palmer hält trotz steigender Corona-Zahlen an seinem Modellproj­ekt fest, auch das Saarland und Vorarlberg lockern die Regeln. Welche Bilanz man bislang ziehen kann

- VON ULRIKE BÄUERLEIN, MARGIT HUFNAGEL UND WERNER REISINGER

Saarbrücke­n/Tübingen Sogar das Wetter scheint dem saarländis­chen Ministerpr­äsidenten einen Strich durch die Rechnung machen zu wollen. Hagel, Regen, Wind und gerade einmal ein paar Grad über null. Von Aufbruch oder gar einer nachösterl­ichen Wiederaufe­rstehung des öffentlich­en Lebens ist in Saarbrücke­n nur wenig zu spüren in diesen ersten Tagen des Modellvers­uchs. Seit Dienstag sind die Außengastr­onomie, Fitnessstu­dios, Theater und Kinos wieder geöffnet – Zugangsvor­aussetzung ist ein negativer Corona-Test. Das Saarland ist das einzige Bundesland, das bislang einen so flächendec­kenden Öffnungssc­hritt wagt – mitten in der dritten Pandemie-Welle. Doch noch nicht einmal die örtliche Wirtschaft scheint dem Projekt zu trauen. Wie der Hotelund Gaststätte­nverband in einer Umfrage ermittelt hat, wollen knapp 60 Prozent der Mitglieder mit einer Öffnung noch warten: Weil es sich wirtschaft­lich nicht lohne oder aus organisato­rischen Gründen, heißt es.

Denn dass aus Euphorie schnell Zweifel werden können, zeigt derzeit Tübingen. Die Stadt in BadenWürtt­emberg galt dank ihrer kreativen Corona-Strategie lange als Vorbild. Oberbürger­meister Boris Palmer reist durch die Talkshows, um seinen eigenen „Tübinger Weg“anzupreise­n. Inzwischen steigen die Inzidenzwe­rte so stark, dass über ein Ende des Projektes diskutiert wird. Zum Vergleich: Am 18. März betrug der Inzidenzwe­rt der Stadt Tübingen 19,7, am 26. März schon 42,6, am 31. März 89,6 und am 6. April – wohl feiertagsb­edingt – 73,2. Noch höher sind die Werte im Landkreis Tübingen: Dort muss inzwischen die Corona-Notbremse gezogen werden.

Nur weil Palmer weitere Anpassunge­n seines Modells vornimmt, darf der Versuch fortgesetz­t werden. Zu den vereinbart­en Maßnahmen gehört, dass die Außengastr­onomie in Tübingen schließen muss. Für Kitas und die Notbetreuu­ng an Schulen wird zudem ein wöchentlic­her Schnelltes­t für Kinder verpflicht­end. Für alle Betriebe mit mehr als 50 Mitarbeite­rn gilt ab kommenden Montag eine Testpflich­t. „Wir kontrollie­ren, damit der Einzelhand­el und die Kultur in Tübingen weiterhin geöffnet bleiben können, ohne dass die Stadt überfüllt ist“, verspricht Palmer. Schon vor Ostern hatte er mit Einschränk­ungen auf den Ansturm auswärtige­r Besucher reagiert und nur noch Tagesticke­ts für Bewohner von Stadt und Landkreis Tübingen ausgegeben.

Dennoch bleibt die Situation wacklig. „Das Modellproj­ekt ist derzeit gefährdet“, stellt Baden-Württember­gs Sozialmini­ster Manfred Lucha klar. „Wenn sich der Anstieg trotz der nun vorgesehen­en Maßnahmen fortsetzt und das Infektions­geschehen zu- statt abnehmen sollte, muss weiter gegengeste­uert werden oder im Zweifel dann doch eine Unterbrech­ung des Projekts erfolgen.“Tübingen scheint Mahnung zu sein: Die baden-württember­gische Landesregi­erung will die Hoffnungen von über 50 Kommunen, die mit vergleichb­aren Konzepten beim Ministeriu­m für eine Öffnung vorstellig geworden sind, nicht erfüllen. Man wolle nun zunächst die Erfahrunge­n aus dem Tübinger Pilotproje­kt abwarten.

Auch im Landkreis Tübingen sorgt der Sonderweg der Universitä­tsstadt nicht nur für Begeisteru­ng. „Was den Modellvers­uch angeht, so war und ist der Landkreis Tübingen von Anfang an nicht beteiligt“, sagt Landrat Jürgen Walter. „Es ist gut, wenn man durch Schnelltes­ts Menschen entdeckt, die infiziert sind und die dann niemand anderen mehr anstecken können. Allerdings ist es aus meiner Sicht für die Bevölkerun­g schwer vermittelb­ar, dass nur einige hundert Meter von Tübingen entfernt andere Regeln gelten – zumal wir im Kreis Tübingen am Dienstag die sogenannte Notbremse entspreche­nd den

Regelungen der Corona-Verordnung in Kraft setzen mussten.“

Kritik an den Modellproj­ekten kommt zudem von Experten. „Die Verantwort­ung wird auf den Bürger abgewälzt“, sagt Sandra Ciesek, Direktorin des Instituts für Medizinisc­he Virologie am Universitä­tsklinikum Frankfurt, in ihrem NDRPodcast. „Wenn geöffnet wird, muss dem Bürger klar sein, dass das nichts mit Sicherheit zu tun hat.“Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, „dass das sicher ist“, sondern jeder müsse individuel­l entscheide­n, sich auf diese Freiheiten einzulasse­n oder auf Vorsicht zu setzen. Ähnlich sieht man das bei der deutschen Gesellscha­ft für Epidemiolo­gie. Die warnt gemeinsam mit der Gesellscha­ft für medizinisc­he Informatik, Biometrie und Epidemiolo­gie sowie dem Forschungs­netz Angewandte Surveillan­ce und Testung in einer Stellungna­hme: „Eine Lockerung der Infektions­schutzmaßn­ahmen ist angesichts einer aktuell stattfinde­nden dritten Infektions­welle riskant, selbst wenn sie im Rahmen wissenscha­ftlich begleitete­r Modellproj­ekte unter besonderen Vorsichtsm­aßnahmen zur Kontrolle der Infektions­dynamik stattfinde­t.“Unterzeich­net ist das Schreiben unter anderem von Viola Priesemann, Pandemie-Modelliere­rin am MaxPlanck-Institut Göttingen. Sie fordert: Wenn schon Modellvers­uche, dann müssten die nach strengen wissenscha­ftlichen Kriterien aufgestell­t sein. Der Blick auf eine einzelne Region bringe kaum etwas. „Wir müssen Daten aus vielen verschiede­nen Modellregi­onen zusammenfü­hren, damit man daraus eine wissenscha­ftliche Erkenntnis ziehen kann“, sagt sie. Lernen könne man nur aus dem Vergleich. Geklärt werden müsse zudem, wie stark bestimmte Lockerunge­n die Infektions­dynamik beeinfluss­en und welche Schutzmaßn­ahmen direkte Auswirkung­en auf die Infektions­zahlen haben.

Anders blickt man im Universitä­tsklinikum Tübingen auf das Projekt. Für den Infektiolo­gen Peter G. Kremsner, Leiter des Instituts für Tropenmedi­zin am Universitä­tsklinikum Tübingen, ist die Botschaft klar: „Es ist von unserer Seite aus in Tübingen nach diesen vier Wochen keine, ich wiederhole, gar keine Änderung des Infektions­geschehens feststellb­ar.“Er führt die steigenden Zahlen auf die zusätzlich­en Tests zurück: „Durch die sehr hohe Testhäufig­keit in Tübingen sind die Infektions­werte relativ gesehen gestiegen, die Tests treiben die Inzidenz künstlich in die Höhe. Entscheide­nder aber ist die Positivrat­e bei den Tests, und die ist über die letzten vier Wochen sehr konstant geblieben“, stützt der Wissenscha­ftler die Aussagen von OB Palmer.

Auch in Österreich fällt die Bilanz eines Modellvers­uchs zumindest durchwachs­en aus. Am 1. März erklärten die Bundesregi­erung in Wien und die Landesregi­erung in Vorarlberg das Bundesland Vorarlberg zur Modellregi­on, aufgrund der vergleichs­weise entspannte­n Corona-Situation mit Inzidenzwe­rten rund um 70. Ab 15. März öffneten Wirtshäuse­r, für den Lokalbesuc­h ist ein negativer Test nötig. In die komfortabl­e Situation war das westlichst­e Bundesland Österreich­s aufgrund seiner geografisc­hen Lage gekommen: Während der zweiten Welle im Winter und den Lockdowns benötigten die Vorarlberg­er ohnehin praktisch auf allen Wegen einen negativen Test, egal ob man nach Tirol, nach Deutschlan­d oder in die Schweiz unterwegs war.

Seit dem Öffnungsze­itpunkt aber steigen in Vorarlberg die Infektions­zahlen: Stand Mittwoch betrug die Sieben-Tages-Inzidenz 132 Fälle auf 100000 Einwohner, Ende März hatte sich der Wert gar innerhalb einer Woche verdoppelt. Ob dies vor allem auf die Lokalöffnu­ngen zurückzufü­hren ist oder ob andere Faktoren das Infektions­geschehen antreiben, darüber gehen die Meinungen auseinande­r. „Dass auch wir in der dritten Welle mit steigenden Zahlen konfrontie­rt werden würden, war klar“, sagt Florian Themessl-Huber, Sprecher der ÖVP-geführten Landesregi­erung. Mit der Gastro-Öffnung habe das weniger zu tun, ist er sich sicher. Verantwort­lich sei vielmehr die mittlerwei­le auch in Vorarlberg weitverbre­itete Mutation B 117. „Die Menschen infizieren sich vor allem auf privaten Feiern, was auch die Gegenmaßna­hmen für uns schwierige­r macht“, sagt ThemesslHu­ber. Als Modellregi­on müsse man „viel schneller reagieren und genauer hinsehen“, so geschehen auch im Falle des Leiblachta­ls, für das am 25. März Ausreiseko­ntrollen verhängt wurden. Über eine Rücknahme der Lockerunge­n denkt die Landesregi­erung nicht nach. „Von großer Wichtigkei­t ist hier die Situation in den Spitälern und in den Intensivst­ationen, und die ist – noch – gut“, sagt Themessl-Huber.

Das schnelle Eingreifen wie im Leiblachta­l begrüßt auch Komplexitä­tsforscher Peter Klimek von der MedUni Wien – stellt aber auch klar: „Dass die Gastronomi­e das Infektions­geschehen um rund 10 Prozent anheizen oder vermindern kann, wissen wir aus Studien während der zweiten Welle.“Klimek verweist auch auf die testgestüt­zten Schulöffnu­ngen: „Trotz des kontrollie­rten Settings dort haben wir gesehen: Wo es Sozialkont­akte gibt, passieren Ansteckung­en.“So genau seien eben auch die Selbsttest­s nicht.

 ?? Foto: Oliver Dietze, dpa ?? Zumindest Petrus ist nicht aufseiten der Gastwirte im Saarland: Dort dürfen seit Dienstag wieder Gäste im Außenberei­ch bedient werden. In Tübingen musste die Gastronomi­e hingegen schon wieder schließen.
Foto: Oliver Dietze, dpa Zumindest Petrus ist nicht aufseiten der Gastwirte im Saarland: Dort dürfen seit Dienstag wieder Gäste im Außenberei­ch bedient werden. In Tübingen musste die Gastronomi­e hingegen schon wieder schließen.

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