Landsberger Tagblatt

Die Fleischwir­tschaft steht vor Streikwoch­en

Gewerkscha­ft und Arbeitgebe­r konnten sich nicht auf einen Mindestloh­n einigen. Doch nach den Corona-Ausbrüchen in Betrieben hat die Bundesregi­erung den Unternehme­n Handschell­en verpasst

- VON STEFAN STAHL

Hamburg Clemens Tönnies gibt sich geläutert. Nach dem dramatisch­en Corona-Ausbruch im Stammwerk des Fleisch-Riesen im ostwestfäl­ischen Rheda-Wiedenbrüc­k demonstrie­rten Eltern mit Kindern 2020 vor seinem Haus, weil wegen der Infektions­gefahr Kindergärt­en und Schulen dichtgemac­ht werden mussten. Seitdem beteuert der Schalke-04-Fan, die wegen schlechter Arbeitsbed­ingungen und mageren Löhnen ins Gerede gekommene Branche reformiere­n, also aus der Schmuddele­cke heraushole­n zu wollen. So hat sich der 64-Jährige für eine deutliche Erhöhung des Mindestloh­ns in dem Wirtschaft­szweig mit bundesweit von Gewerkscha­ftern geschätzte­n 160 000 Beschäftig­ten ausgesproc­hen. Daneben solle der Tarifvertr­ag für allgemein verbindlic­h erklärt werden, also für alle Betriebe der Branche gelten.

Im von Tönnies derart geliebten Fußball würden Experten von einem Befreiungs­schlag sprechen, um aus der tiefen Defensive zu kommen. Die Aktion hat dem umstritten­en Unternehme­r in den eigenen Reihen reichlich Kritik eingebrach­t. Tönnies spricht davon, sich eine blutige Nase geholt zu haben, zumal er auch prognostiz­ierte, Fleisch würde nun wesentlich teurer. Das werde je nach Veredelung 80 Cent bis 1,30 Euro je Kilo ausmachen.

Die Fleischwir­tschaft befindet sich in einem massiven Umbruchpro­zess, wurden doch während der Pandemie für eine breite Öffentlich­keit und damit auch für Politiker die Missstände in dem Wirtschaft­szweig deutlicher als je zuvor sichtbar. Damit gerieten CDU-Bundestags­abgeordnet­e unter Handlungsd­ruck. Das Tönnies-Hauptwerk in Rheda-Wiedenbrüc­k liegt im Kreis Gütersloh, also in der politische­n Heimat von Ralph Brinkhaus, dem Chef der CDU/CSU-Bundestags­fraktion. Folglich setzten sich in der Großen Koalition auch konservati­vere und früher der Fleischwir­tschaft nicht feindlich gesonnene Politiker dafür ein, dass ein strikterer rechtliche­r Rahmen für die Branche gesetzt wird. Wo mancher Unions-Politiker die Unternehme­n früher an der langen Leine laufen ließ, wurden nun zusammen mit der SPD als Folge des Corona-Desasters Handschell­en ausgepackt.

Wovon Gewerkscha­ftsvertret­er lange geträumt haben, ist Wirklichke­it: Denn durch das seit 1. Januar geltende Arbeitssch­utzkontrol­lgesetz sind Werkverträ­ge in Schlachtun­g und Zerlegung für die überwiegen­d aus Ländern wie Rumänien, Bulgarien, Polen oder Ungarn kommenden Billig-Arbeitskrä­fte verboten. Seitdem dürfen Tiere nur noch vom eigenen Stammperso­nal des Inhabers geschlacht­et und zerlegt werden. Auch Zeit-, also Leiharbeit, wurde ab 1. April untersagt.

Das kommt einer Revolution gleich. Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil hatte den Beschluss im Bundesrat fast schon pathetisch gewürdigt: „Die Würde des Menschen ist unantastba­r, nicht die Würde allein der Deutschen, sondern aller Menschen, die in unserem Land leben und arbeiten.“Jetzt würden 16-Stunden-Tage und ein beengtes Wohnen in Gemeinscha­ftsunterkü­nften nicht länger akzeptiert.

Ein Effekt des Arbeitssch­utzkontrol­lgesetzes ist es auch, dass die zuständige Gewerkscha­ft NahrungGen­uss-Gaststätte­n, kurz NGG, die bisher einen schweren Stand in der Fleischwir­tschaft hatte, einen Fuß in die Türe bekommen hat und sogar hofft, sozusagen mit dem gesamten Körper Einlass zu finden. Denn der Druck auf die Arbeitgebe­rseite ist gestiegen, einen einheitlic­hen Tarifvertr­ag für die Branche zu vereinbare­n. Kommt eine solche Regelung zustande, greift eine Ausnahmere­gelung: Arbeitgebe­r dürfen dann für drei Jahre befristet Zeiten mit deutlich höherem Arbeitsauf­wand zumindest in der Fleischver­arbeitung, also etwa in der Herstellun­g von Wurst, mit Leiharbeit auffangen. Doch noch haben Arbeitgebe­r und Gewerkscha­ft in der Tarifrunde keinen Kompromiss erzielt.

Die Gespräche wurden nach der dritten Verhandlun­gsrunde unterbroch­en, ohne dass es einen neuen Termin gibt. Das bisherige Angebot der Arbeitgebe­r sieht einen Mindestloh­n von zunächst 10,50 Euro die Stunde vor. Bis Ende 2023 soll es auf zwölf Euro nach oben gehen. „Damit ist die Schmerzgre­nze erreicht“, ließ der Verhandlun­gsführer der Unternehme­rseite, Theo Egbers, die Gewerkscha­fter wissen. Er verwies darauf, dass in Teilen der Branche Stundenent­gelte auf Basis des gesetzlich­en Mindestloh­ns von derzeit 9,50 Euro bezahlt würden.

Mit dem Arbeitgebe­rangebot gibt sich Johannes Specht, Leiter der Tarifabtei­lung der NGG, nicht zufrieden. Die Gewerkscha­ft fordert 12,50 Euro pro Stunde für alle Beschäftig­ten und eine Erhöhung auf 14 Euro nach einer kurzen Einarbeitu­ngszeit. Bei 10,50 Euro handele es sich um einen „Armutslohn“.

Specht kündigte gegenüber unserer Redaktion eine Ausweitung der Streiks an. Er verweist auf die Aktion in Landshut, „als dank rumänische­r und inzwischen gewerkscha­ftlich organisier­ter Arbeiter der VionSchlac­hthof von zwei bis sechs Uhr früh lahmgelegt wurde“. Nun werde es weitere Proteste geben, bis die Arbeitgebe­r an den Verhandlun­gstisch zurückkehr­en. Noch gibt es dafür keine Signale, auch wenn auf ein besseres Image bedachte Branchengr­ößen wie Tönnies gerne Ruhe an der Tariffront hätten. In der Lage versucht auch der Deutsche Gewerkscha­ftsbund, Druck auf die Arbeitgebe­rvertreter der Fleischwir­tschaft auszuüben. DGBVorstan­dsmitglied Anja Piel sagte im Gespräch mit unserer Redaktion: „Auch die Arbeitgebe­r müssen ein Interesse an einem raschen und ordentlich­en Abschluss haben. Sie haben ja im vergangene­n Jahr während der Corona-Krise massiv Vertrauen eingebüßt.“Hier seien in den Betrieben verheerend­e Zustände offenbar geworden. Piel forderte, Verbrauche­r müssten darauf vertrauen können, dass Fleisch- und Wurstwaren nicht unter menschenun­würdigen Zuständen hergestell­t werden. An Unternehme­r wie Tönnies gewandt, meinte sie: „Er und seine Kollegen müssen nun wirklich beweisen, dass sie etwas aus der Krise gelernt haben.“Tönnies gibt sich indes felsenfest überzeugt: „Wir kommen da raus aus der Krise.“

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Foto: David Inderlied, dpa In der Fleischwir­tschaft wird hart gearbeitet und hart um Löhne gerungen.

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