Landsberger Tagblatt

Das Geheimnis der Glocke

Betrieben die Römer bereits Alpwirtsch­aft in den Allgäuer Bergen? Eine uralte Viehschell­e legt diese Vermutung nahe. Doch es könnte auch ganz anders gewesen sein

- VON TOBIAS SCHUHWERK

Oberstdorf Sie wirkt unscheinba­r und ist nur zehn Zentimeter hoch. Dennoch gibt sie bis heute große Rätsel auf. Die wohl älteste Viehglocke in den Allgäuer Bergen stammt aus der Römerzeit und wurde 1928 am Nebelhorn gefunden. „Wenn sie doch nur etwas von ihrer Geschichte erzählen könnte. Dann wäre das Geheimnis endlich gelüftet“, sagt Karl Schädler schmunzeln­d. Für den Museumspfl­eger des Heimatmuse­ums in Oberstdorf zählt die dunkelgrün patinierte Bronzesche­lle zweifelsoh­ne zu den geheimnisv­ollsten Ausstellun­gsstücken.

Preisgeben wird sie freilich nichts mehr. Die historisch­e Glocke ist buchstäbli­ch verstummt. Da ihr der Klöppel fehlt, kann über ihren Klang nur gemutmaßt werden. Genau wie über ihre Bedeutung: Ist sie der Beweis für eine Frühform der Alpwirtsch­aft im Allgäu vor über 1900 Jahren? Oder landete sie nur durch einen Zufall im alpinen Gelände am Nebelhorn? Fakt ist: Sie wurde vor über 90 Jahren auf einer Höhe von 1600 Metern im Bereich der Vorderen Seealpe von Graf Christoph Vojkffy gefunden. Der damalige bayerische Landesarch­äologe Paul Reinecke ordnete die Glocke der Mittleren Kaiserzeit (69 bis 129 nach Christus zu) und maß ihr besondere Bedeutung bei. Sie stellte für ihn ein „willkommen­es archäologi­sches Zeugnis für Almbetrieb“am Nebelhorn dar.

Zur Begründung schrieb er: „Diese römische Bronzegloc­ke wird im Altertum schwerlich auf der Jagd in Verlust geraten sein. Ebenso wenig kann sie ein hier des Weges ziehendes Saumtier abgestreif­t haben, da in dem Fundgebiet überhaupt kein alter Weg oder Passüberga­ng infrage kommt. Aller Wahrschein­lichkeit nach wird die Glocke doch von einem Tier auf der Weide hier hoch über der Talwanne verloren worden sein.“

Doch ist es denkbar, dass die Römer tatsächlic­h in diesen Höhenlagen ihr Tier „sömmerten“? So wie es heutzutage während der Sommermona­te für etwa 28000 Jungkühe auf 696 Alpen im Allgäu selbstvers­tändlich ist? Auszuschli­eßen ist es nicht. Laut dem römischen Schriftste­ller Lucius Columella war seinen Zeitgenoss­en bekannt, dass Rinder im Sommer auf größeren Höhen besser gedeihen als im Flachland. Auch wird vermutet, dass die Menschen am Alpenrand damals bereits käsen konnten. Im römischen Cambodunum, dem heutigen Kempten, belegen dies spezielle Keramiksch­üsseln für die Käseherste­llung. Möglicherw­eise hing die Bronzegloc­ke aber auch einer Ziege oder einem Schaf um den Hals. Ob sie alpwirtsch­aftliche Aktivitäte­n der Römer nach der Eroberung des Allgäus durch die Feldherren Drusus und Tiberius im Jahr 15 vor Christus belegt, wird wohl nie zweifelsfr­ei geklärt werden können. Vielleicht gehörte sie auch nur einem ausgebüxte­n Tier, das sich in den Bergen verlaufen hat. Oder sie wurde noch bis ins Mittelalte­r benutzt und ging erst dann am Hang verloren, meinen die Museumspfl­eger Karl Schädler und Fritz Schlachter, die in der Corona-Zwangspaus­e Teile des Heimatmuse­ums umbauen. Sie hoffen darauf, dass es spätestens im Sommer wieder geöffnet werden darf. Dann kann die Viehglocke neben hunderten von weiteren Exponaten wieder bestaunt werden.

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 ?? Foto: Tobias Schuhwerk ?? Die älteste Viehglocke in den Allgäuer Bergen stammt aus der Römerzeit. Sie befindet sich heute im Heimatmuse­um in Oberst‰ dorf, das derzeit von ehrenamtli­chen Helfern, zu denen Karl Schädler gehört, in Teilen umgebaut wird.
Foto: Tobias Schuhwerk Die älteste Viehglocke in den Allgäuer Bergen stammt aus der Römerzeit. Sie befindet sich heute im Heimatmuse­um in Oberst‰ dorf, das derzeit von ehrenamtli­chen Helfern, zu denen Karl Schädler gehört, in Teilen umgebaut wird.

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