Landsberger Tagblatt

Belarus, ein Land wie nach einem langen Koma

Der junge Schriftste­ller Sasha Filipenko schreibt in seinem neuen Roman über seine Heimat und die Proteste

- VON LILO SOLCHER

Was für ein Buch! Sasha Filipenko, 1984 in Minsk geboren und in St. Petersburg lebend, hat das belarussis­che Drama in einen Roman gegossen, der niemanden kalt lassen kann. Zu gegenwärti­g sind die verzweifel­ten Demonstrat­ionen gegen den Diktator Alexander Lukaschenk­o auf den Straßen von Minsk. „Meine inständige Hoffnung ist, dass dieses Buch in meinem Land eines Tages nicht mehr aktuell sein wird“, schreibt der Autor im Vorwort.

Es sieht nicht danach aus, als würde diese Hoffnung bald in Erfüllung gehen. Es sieht eher danach aus, als würde das Land unter dem Diktator weiter im Koma dahinsiech­en, als würde alles bleiben, wie es ist. Keine Aussicht auf Veränderun­g, keine Hoffnung auf Freiheit.

Filipenko hat dafür Bilder gefunden, die haften bleiben.

Im Zentrum des Romans steht der 16-jährige Franzisk Lukitsch, der bei seiner liebevolle­n, aber strengen Babuschka aufwächst und in einem staatliche­n Gymnasium Cello lernt. Die Lehrer sind angepasst, unterricht­en nach staatliche­r Interpreta­tion, andere haben keine Chance. Franzisk und seine Freunde sind es leid, wollen Spaß haben, die Jugend genießen, das Leben feiern.

Bei einer Massenpani­k wird der Junge schwer verletzt und fällt ins Koma. Obwohl der behandelnd­e Arzt und spätere Mann der Mutter darauf besteht, dass Franzisk nur mehr „Gemüse“ist, gibt die Großmutter die Hoffnung nicht auf, ihren Enkel zurück ins Leben erzählen zu können.

Sie liest ihm vor, berichtet aus dem eigenen Leben und von den deutschen Gasteltern, die irgendwann auch zu Besuch kommen in Franzisks Krankenzim­mer. Doch nichts scheint zu helfen. Jahr um Jahr vergeht.

Dann stirbt die Großmutter – und Franzisk erwacht. Nach zehn Jahren hat er das Gefühl, nichts habe sich verändert. Noch immer ist Lukaschenk­o an der Macht, noch immer werden Regimegegn­er weggesperr­t oder umgebracht, noch immer herrscht Tristesse in Minsk. Der junge Mann versucht sich am neuen Leben und fühlt sich doch fremd.

Dann scheint es so etwas wie ein Erwachen im Land zu geben. Nach Lukaschenk­os geklautem Sieg gehen die Menschen zu Zehntausen­den auf die Straße. Womöglich geht es Belarus wie ihm selbst, hofft Franzisk – und die Menschen erwachen aus einem langen Koma, reiben sich die Augen und nehmen die Politik selbst in die Hand. Doch auch diese Hoffnung trügt, die Gewalt siegt: „Aus einem so langen

Koma erwacht man nicht. Es gibt keine Wunder. In diesem verängstig­ten, an die Wand gefahrenen, in die Ecke gedrängten Land konnte all das nicht passieren.“

Womöglich begeht das ganze Land Selbstmord wie Franzisks Freund Stass. Für sich sieht der junge Mann nur einen Ausweg: Er geht nach Deutschlan­d zu seinen Gasteltern und wird für seine Mutter tatsächlic­h das, was der Titel verspricht: „Der ehemalige Sohn“.

Schon mit seinem Roman „Rote Kreuze“über den Stalinterr­or hat Filipenko seine erzähleris­che Meistersch­aft bewiesen. Auch in diesem Roman überzeugt der junge Autor mit großer Fabulierfr­eude und stilistisc­her Wucht. Lesen!

» Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn, übers. v. Ruth Altenhofer, Dioge‰ nes, 320 S., 23 Euro

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Foto: Lukas Lienhard, Diogenes Sasha Filipenko stammt aus Minsk (Be‰ larus).

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