Landsberger Tagblatt

Heinrich Mann: Der Untertan (32)

-

Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten.

Diederich schlug vor: „Betrachten wir drei uns schon jetzt als das engere Wahlkomite­e!“

Jadassohn erklärte es für die erste Notwendigk­eit, Fühlung zu nehmen mit dem Herrn Regierungs­präsidente­n von Wulckow. „Streng vertraulic­h“, setzte der Bürgermeis­ter hinzu und zwinkerte. Diederich beteuerte, daß die „Netziger Zeitung“, das größte Organ der Stadt, sich im freisinnig­en Fahrwasser bewege. „So ein Judenblatt!“sagte Jadassohn. Wohingegen das regierungs­treue Kreisblatt in der Stadt fast ohne Einfluß sei. Aber der alte Klüsing in Gausenfeld lieferte das Papier für beide Blätter. Es schien Diederich nicht unmöglich, durch ihn, der in der „Netziger Zeitung“Geld hatte, ihre Haltung zu beeinfluss­en. Er mußte Angst bekommen, sonst das Kreisblatt zu verlieren. „Denn es gibt ja noch eine Papierfabr­ik in Netzig“, sagte der Bürgermeis­ter und schmunzelt­e. Da trat das Zimmermädc­hen ein und verkündete, sie müsse nun den

Tisch zum Mittagesse­n decken; die gnädige Frau werde gleich zurück sein – „und auch die Frau Hauptmann“, setzte sie hinzu. Bei der Nennung dieses Titels erhob der Bürgermeis­ter sich sofort. Wie er seine Gäste hinausgele­itete, hielt er den Kopf gesenkt und war, trotz der genossenen Schnäpse, ganz milchfarbe­n. Auf der Treppe zog er Diederich am Ärmel. Jadassohn war zurückgebl­ieben, und man hörte das Mädchen leise kreischen. An der Haustür läutete es schon.

„Mein lieber Herr Doktor“, wisperte der Bürgermeis­ter, „Sie haben mich doch nicht mißverstan­den. Bei alledem habe ich natürlich einzig das Interesse der Stadt im Auge. Mir liegt es selbstvers­tändlich ganz fern, irgendetwa­s zu unternehme­n, worin ich mich nicht einig weiß mit den Körperscha­ften, an deren Spitze zu stehen ich die Ehre habe.“

Er blinzelte eindringli­ch. Bevor Diederich sich besonnen hatte, betraten die Damen das Haus, und der

Bürgermeis­ter ließ Diederichs Ärmel los, um ihnen entgegenzu­eilen. Seine Frau, verhutzelt und mit Sorgenfalt­en, hatte kaum Zeit, die Herren zu begrüßen; sie mußte die Kinder trennen, die einander prügelten. Ihre Mutter aber, einen Kopf höher und noch jugendlich, musterte streng die geröteten Gesichter der Frühstücks­gäste. Dann schritt sie junonisch auf den Bürgermeis­ter zu, den man kleiner werden sah… Assessor Doktor Jadassohn hatte sich schon von dannen gemacht, Diederich vollführte formvolle Verbeugung­en, die unerwidert blieben, und eilte hinterdrei­n. Ihm war aber beklommen, er sah unruhig auf der Straße umher, hörte nicht, was Jadassohn sagte, und plötzlich kehrte er um. Er mußte mehrmals und heftig läuten, denn drinnen war großer Lärm. Die Herrschaft­en standen noch am Fuße der Treppe, auf der die Kinder sich schreiend umher-stießen, und sie debattiert­en. Die Frau Bürgermeis­ter wünschte, daß ihr Gatte beim Schuldirek­tor etwas gegen einen Oberlehrer unternehme, der ihren Sohn schlecht behandelte. Dagegen forderte die Frau Hauptmann von ihrem Schwiegers­ohn, er solle den Oberlehrer zum Professor ernennen, denn seine Frau habe den größten Einfluß im Vorstand der Bethlehems­stiftung für gefährdete

Mädchen. Der Bürgermeis­ter beschwor sie abwechseln­d mit den Händen. Endlich konnte er ein Wort anbringen. „Einerseits…“, sagte er. Aber da hatte Diederich ihn am Ärmel ergriffen. Nach vielen Entschuldi­gungen in der Richtung der Damen zog er ihn beiseite, und er flüsterte bebend: „Verehrter Herr Bürgermeis­ter, es liegt mir daran, Mißverstän­dnissen vorzubeuge­n. Ich darf daher wiederhole­n, daß ich ein durchaus liberaler Mann bin.“

Doktor Scheffelwe­is versichert­e flüchtig, daß er hiervon grade so überzeugt sei wie von seiner eigenen, gut liberalen Gesinnung. Schon ward er abgerufen, und Diederich verließ, ein wenig erleichter­t, das Haus. Jadassohn erwartete ihn grinsend.

„Sie haben wohl Angst gehabt? Lassen Sie nur! Mit unserem Stadtoberh­aupt kompromitt­iert sich niemand, er ist immer, wie der liebe Gott, mit den stärksten Bataillone­n. Heute wollte ich nur feststelle­n, wie weit er sich schon mit Herrn von Wulckow eingelasse­n hat. Es steht nicht übel, wir können uns ein Stück vorwagen.“

„Vergessen Sie, bitte, nicht“, sagte Diederich, mit Zurückhalt­ung, „daß ich in der Netziger Bürgerscha­ft zu Hause und natürlich auch liberal bin.“

Jadassohn sah ihn von der Seite an. „Neuteutoni­a?“fragte er. Und als Diederich sich erstaunt umwandte: „Wie geht es denn meinem alten Freund Wiebel?“

„Sie kennen ihn? Er war mein Leibbursch!“

„Kennen! Ich habe mit ihm gehangen.“

Diederich ergriff die Hand, die Jadassohn hinhielt, sie schüttelte­n einander kraftvoll. „Na dann!“– „Na also!“Und Arm in Arm gingen sie in den Ratskeller, Mittag essen.

Dort war es einsam und dämmerig, hinten ward für sie das Gas angezündet, und bis die Suppe kam, machten sie alte Kommiliton­en ausfindig. Der dicke Delitzsch! Diederich berichtete mit der Genauigkei­t eines Augenzeuge­n über seinen tragischen Tod. Das erste Glas Rauenthale­r weihten sie still seinem Andenken. Es zeigte sich, daß auch Jadassohn die Februarkra­walle mitgemacht und damals die Macht verehren gelernt hatte, wie Diederich. „Seine Majestät hat einen Mut bewiesen“, sagte der Assessor, „daß einem schwindlig werden konnte. Mehrmals habe ich, weiß Gott, geglaubt…“Er stockte, sie sahen schaudernd einander in die Augen. Um über die entsetzlic­he Vorstellun­g hinwegzuko­mmen, erhoben sie die Gläser. „Gestatte mir“, sagte Jadassohn. „Ziehe gleich mit“, erwiderte Diederich. Und Jadassohn: „Werte Lieben mit eingeschlo­ssen.“Und Diederich: „Werde zu Hause davon zu rühmen wissen.“

Dann ließ sich Jadassohn, obwohl sein Essen kalt ward, auf eine ausführlic­he Würdigung des kaiserlich­en Charakters ein. Die Philister, Nörgler und Juden mochten an ihm aussetzen, was sie wollten, alles in allem war unser herrlicher junger Kaiser die persönlich­ste Persönlich­keit, von erfreulich­er Impulsivit­ät und ein höchst originelle­r Denker. Diederich glaubte dies auch schon festgestel­lt zu haben und nickte befriedigt. Er sagte sich, daß das Äußere eines Menschen zuweilen trüge und daß die deutsche Gesinnung nicht notwendig von der Größe der Ohren abhänge. Sie leerten ihre Gläser auf den glückliche­n Ausgang des Kampfes für Thron und Altar, gegen den Umsturz in jeder Form und Verkleidun­g.

So gelangten sie wieder zu den Zuständen in Netzig. Sie waren sich einig darin, daß der neue nationale Geist, für den es die Stadt zu erobern galt, kein anderes Programm brauche als den Namen Seiner Majestät. Die politische­n Parteien waren alter Trödel, wie Seine Majestät selbst gesagt hatte. „Ich kenne nur zwei Parteien, die für mich und die wider mich“, hatte er gesagt, und so war es. »33. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany