Landsberger Tagblatt

Indien ringt nach Luft

Nirgends steigt die Zahl der Infektione­n so schnell wie in dem Land mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern. Für viele ist die Angst um ihre wirtschaft­liche Existenz größer als die vor dem Virus. Ein Arzt sagt: Die Welt kann Corona nur besiegen, wenn auch In

- VON PHILIPP HEDEMANN

Delhi Als der Test ergab, dass Ravi Corona hat, rannte der Tagelöhner davon und verschwand in den engen Gassen des Slums Lalbagh in der indischen Megastadt Delhi. Der 38-Jährige wollte sich nicht in eines der Quarantäne-Zentren des dicht besiedelte­n Slums begeben. Mindestens 14 Tage hätte der alleinige Ernährer seiner Familie dort festgesess­en, ohne eine einzige Rupie verdienen zu können. Zu Hause hätte er sich nicht isolieren können, schließlic­h wohnt er mit seiner Frau und den vier Kindern in einer engen Hütte mit nur einem Raum und hätte so wahrschein­lich auch seine Familie angesteckt.

Niemand weiß, wie viele Menschen Ravi infiziert hat, bevor er sich ein paar Tage später doch den Behörden stellte. Er hätte nicht fliehen dürfen, und deshalb steht hier auch nicht sein echter Name. Doch Verzweifel­te wie Ravi sind einer der Gründe, warum die Zahl der Corona-Neuinfekti­onen in Indien seit Ende März explodiert. Die Statistike­n erreichen jeden Tag neue, angsteinfl­ößende Höhen. Binnen 24 Stunden meldete das indische Gesundheit­sministeri­um am Sonntag 349 691 neue Fälle. Nie zuvor haben sich in einer Nation so viele Menschen an einem Tag mit dem Virus angesteckt. 2767 Menschen starben innerhalb von 24 Stunden an oder mit Covid-19. Noch ein trauriger indischer Tagesrekor­d. Und da in der größten Demokratie der Welt nach wie vor wenig getestet wird, dürfte die tatsächlic­he Zahl der Infizierte­n noch viel höher liegen. Mit insgesamt rund 16,9 Millionen Erkrankten ist Indien nach Angaben der amerikanis­chen Johns-HopkinsUni­versität mittlerwei­le nach den USA das Land mit den meisten Infizierte­n. Es fehlt an Betten, antivirale­n Medikament­en und medizinisc­hem Sauerstoff. Und die neue Virusvaria­nte B.1.617, umgangsspr­achlich schon als „indische Mutante“bekannt, macht alles noch schlimmer.

In Deutschlan­d hat sich die indische Virusvaria­nte bislang noch kaum ausgebreit­et. Bis zum Wochenende wurden knapp zwei Dutzend Fälle nachgewies­en. Damit es nicht mehr werden, ernennt die Bundesregi­erung Indien ab diesem Montag zum Virusvaria­ntengebiet. Dann gelten noch strengere Einreisere­geln als beim Status eines Hochrisiko­gebiets. Konkret: ein weitgehend­es Einreiseve­rbot für Menschen, die sich zuvor in Indien aufgehalte­n haben. Deutsche und Ausländer mit Aufenthalt­srecht in der Bundesrepu­blik dürfen zwar weiter einreisen, müssen allerdings schon beim Abflug von einem indischen Flughafen einen negativen CoronaTest vorweisen und sich in Quarantäne begeben, sobald sie in Deutschlan­d gelandet sind.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) hat Indien Hilfe angeboten. „Wir bereiten so schnell wie möglich eine Unterstütz­ungsmissio­n vor“, sagte sie am Wochenende. Aus Brüssel hieß es, dass die EU bei der Versorgung mit Sauerstoff und Medikament­en helfen werde. Sogar der politische Erzfeind Pakistan offeriert Beatmungsg­eräte, Röntgenger­äte und Schutzklei­dung. Indien selbst hat aufgrund der katastroph­alen Zahlen jetzt den Export von Corona-Impfstoff gestoppt. Vor allem AstraZenec­a produziert hier. Impfkampag­nen in aller Welt könnten so ins Stocken geraten.

Die ehrenamtli­che Helferin Shiv Kumari sieht jeden Tag in den Straßen des Slums Lalbagh, wie rasend schnell Corona die Menschen befällt. Tagelang war sie auf der Suche nach dem positiv getesteten Ravi. Als staatliche Gesundheit­shelferin, die freiwillig für die Organisati­on World Vision arbeitet, will sie helfen, die heftige zweite Welle im Slum, in dem sie aufwuchs, zu brechen. Sie berichtet, dass viele Krankenhäu­ser in der Nähe des Slums bereits an ihre Grenzen stoßen und Corona-Patienten abweisen. Zuletzt gab es alleine in der indischen Hauptstadt mehr als 17000 Neuinfekti­onen pro Tag, unter den Erkrankten sind auch immer mehr

Kinder, einige Krematorie­n mussten zusätzlich­e Öfen in Betrieb nehmen. Damit Infizierte ihre Sauerstoff­sättigung im Blut selbst überprüfen können, verteilt die Gesundheit­shelferin deshalb jetzt an Erkrankte Sauerstoff­messgeräte, die die indische Regierung kostenlos zur Verfügung stellt. „Auch wenn die Infektions­zahlen gerade rasant steigen, haben die Menschen eher Angst, dass sie wegen einer Zwangsquar­antäne oder eines zweiten harten Lockdowns verhungern könnten, als dass sie am Virus sterben. Deshalb wollen viele sich nicht testen lassen“, berichtet die 42-Jährige. In den letzten Monaten hat sie tausende Haushalte in Lalbagh besucht und für die Einhaltung der Corona-Schutzmaßn­ahmen geworben. Sie glaubt, dass nur große Vorsicht einen weiteren harten Lockdown verhindern kann.

Mit der weltweit größten Ausgangssp­erre versuchte Indien zu Beginn der Pandemie, den CoronaKoll­aps zu verhindern. Selbst China ist nicht so rigoros gegen die Ausbreitun­g des Virus vorgegange­n. Die Auswirkung­en auf die Wirtschaft waren katastroph­al, Staat und Hilfsorgan­isationen mussten Millionen Menschen mit Lebensmitt­ellieferun­gen unterstütz­en. Doch die zunächst relativ geringen Infektions­und Todeszahle­n schienen Premier Narendra Modi recht zu geben. Seit

Anfang Juni letzten Jahres wurde der strikte Lockdown jedoch schrittwei­se gelockert. Erst kürzlich, Anfang April, kamen beim Kumbh Mela, dem größten aller hinduistis­chen Feste, Millionen Menschen zusammen, um gemeinsam und oft ohne Abstand und Maske zu feiern und im Ganges zu baden. Auch wenn die Teilnahme offiziell nur mit einem negativen Corona-Test erlaubt war, wurden die Feierlichk­eiten sowie überlaufen­e Politikera­uftritte vor den in mehreren Bundesgebi­eten anstehende­n Wahlen zu Supersprea­der-Events – genauso wie gut besuchte CricketSpi­ele, die viele Inder so lieben.

„Der erste strikte Lockdown war notwendig, damit das Gesundheit­ssystem sich auf die Pandemie vorbereite­n und der Bevölkerun­g der Ernst der Lage klargemach­t werden konnte. Dennoch haben viele Menschen mittlerwei­le die Angst vor dem Virus verloren“, sagt Dr. Suvirajh John, Chefarzt am renommiert­en Sir-Ganga-Ram-Krankenhau­s in Delhi. Nach Angaben des Arztes ist die jetzt in Indien vorherrsch­ende Virus-Mutation ansteckend­er und wahrschein­lich auch gefährlich­er und tödlicher als das Virus der ersten Welle. Viele Krankenhäu­ser füllten sich deshalb schnell mit Covid-19-Patienten und hunderte Ärzte und Pflegekräf­te haben den Kampf gegen Corona schon mit dem

Leben bezahlt. „Wenn das Gesundheit­ssystem in bestimmten Regionen unseres Landes an seine Grenzen gerät – und das wird passieren –, wird die Regierung mit regionalen Lockdowns reagieren, um den Krankenhäu­sern eine Chance zu geben, wieder die Oberhand über das Virus zu bekommen. Es wird hart, aber wir werden diesen Kampf gewinnen“, gibt Dr. Suvirajh John sich vorsichtig optimistis­ch.

In der Hauptstadt Delhi und im besonders betroffene­n Bundesstaa­t Maharashtr­a, in dem auch die 12,5 Millionen-Einwohner-Metropole Mumbai liegt, wurden bereits Wochenend-Lockdowns und nächtliche Ausgangssp­erren verhängt. Neben zeitlich und regional beschränkt­en Lockdowns soll die größte Impfkampag­ne des gesamten Globus Indien jetzt im Kampf gegen das Virus helfen. Mitte Januar hatte das zweitbevöl­kerungsrei­chste Land der Welt begonnen, unter anderem besonders Gefährdete, Mitarbeite­r des Gesundheit­ssystems und Polizisten zu impfen. Mittlerwei­le sind alle Menschen über 45 Jahren impfberech­tigt. Mehr als 118 Millionen Inder wurden nach Angaben des Gesundheit­sministeri­ums bereits mindestens einmal geimpft – überwiegen­d mit Covishield, dem in Indien produziert­en Impfstoff von AstraZenec­a. Laut Plan sollen bis Ende Juli 300 Millionen Menschen immunisier­t werden. Doch zuletzt geriet die Kampagne ins Stocken. Weil es keinen Nachschub gab, mussten Impfzentre­n schließen. „Indien hat die Wucht der zweiten Welle unterschät­zt. Beim derzeitige­n Impftempo würde es 13 Monate dauern, 60 Prozent der Bevölkerun­g zu schützen. Die Regierung muss jetzt sehr schnell sehr viel mehr Geld in die Hand nehmen, die Produktion­skapazität­en dramatisch erweitern und weiteren Impfstoffe­n eine Notfallzul­assung erteilen“, sagt Dr. Christian Wagner, Indien-Experte der Stiftung Wissenscha­ft und Politik in Berlin.

Einer der Gründe für den Impfstoffm­angel ist, dass Indien, das sich als Heimat des weltgrößte­n Impfstoffh­erstellers „Serum Institute of India“gerne als „Apotheke der Welt“bezeichnet, bislang mehr als 60 Millionen Impfstoff-Einheiten in über 75 Länder exportiert hat. Auch

Jeder Tag bringt einen traurigen Rekord

Jetzt ist die Devise: „India first“

die UN-Initiative Covax, die arme Länder mit Corona-Impfstoff versorgt, hat davon profitiert. Als Reaktion auf die Gesundheit­skrise im eigenen Land verbot das indische Gesundheit­sministeri­um auch den Export des gegen Corona zugelassen­en Medikament­s Remdesivir, das schwere Schäden bei Covid-Patienten verhindern soll. Nach dem Motto „India first“sollen zudem voraussich­tlich bis mindestens Ende Juni keine Corona-Impfstoffe mehr ausgeführt werden.

„Als einer der größten Impfstoffh­ersteller der Welt hat Indien eine Verantwort­ung, ärmeren Ländern zu helfen. Aber jetzt hat die Regierung zunächst vor allem die Pflicht, die eigene Bevölkerun­g zu schützen“, erklärt Dr. Suvirajh John. Er weist darauf hin, dass die ganze Welt ein Interesse daran haben sollte, dass Indien seine Impfkampag­ne beschleuni­gen kann. „Wir leben in einer globalisie­rten Welt. Indien hat mehr als 1,3 Milliarden Einwohner. Die Pandemie kann weltweit nur besiegt werden, wenn auch die Schlacht in Indien gewonnen wird.“

 ?? Foto: Karma Sonam, dpa ?? Mitte April im indischen Haridwar: Gläubige nehmen anlässlich des Kumbh Mela, des größten religiösen Festes im Hinduismus, ein traditione­lles Bad im Ganges. Dessen Wasser wird als heilig angesehen. Wer darin badet, soll von Sünden befreit und der Erlösung im Nirwana ein Stück näher sein. Offiziell war die Teilnahme nur mit einem negativen Corona‰Test erlaubt.
Foto: Karma Sonam, dpa Mitte April im indischen Haridwar: Gläubige nehmen anlässlich des Kumbh Mela, des größten religiösen Festes im Hinduismus, ein traditione­lles Bad im Ganges. Dessen Wasser wird als heilig angesehen. Wer darin badet, soll von Sünden befreit und der Erlösung im Nirwana ein Stück näher sein. Offiziell war die Teilnahme nur mit einem negativen Corona‰Test erlaubt.
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Fotos: Sir‰Ganga‰Ram‰Hospital/New Delhi, World Vision Zwei, die sich dem Virus entgegenst­ellen: Chefarzt Dr. Suvirajh John und Corona‰Auf‰ klärerin Shiv Kumari.
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