Landsberger Tagblatt

„Mut würde ich es nicht nennen“

Motorradfa­hrer Stefan Bradl über das Gefühl, mit 360 Stundenkil­ometern über die Rennpiste zu donnern, und seine Arbeit als Testpilot für Honda. Der 31-Jährige gibt Tipps für die Ausfahrt auf der Landstraße

- Interview: Milan Sako

Spät weicht die Kälte, die Motorradfa­hrer richten ihre Maschinen her. Wie viele Bikes stehen in Ihrer Garage?

Stefan Bradl: Schon ein paar. Mein wichtigste­s Bike ist mein Rennstreck­en-Motorrad, mit dem ich privat zum Trainieren fahre. Als Rennfahrer darf man das Gefühl für die Geschwindi­gkeit nicht verlieren. Es ist eine Honda Fireblade mit 217 PS, das sportlichs­te Teil, das die Japaner zu bieten haben. Im Corona-Lockdown habe ich es mehrere Male genutzt. Mein privates Straßen-Motorrad ist eine Honda Africa Twin. Salopp gesagt ein Tourendamp­fer, mit dem man in den Bergen gemütlich unterwegs ist.

Sie trainieren auch mit ambitionie­rten Hobby-Rennfahrer­n in Hockenheim? Bradl: Klar, das macht auch Spaß. Meistens sind die Veranstalt­er begeistert, wenn es heißt: Der Bradl kommt. Dann helfe ich als FahrerCoac­h und gebe Ratschläge.

Welche Tipps gibt der Fahrlehrer Bradl einem Hobbyrennf­ahrer? Bradl: Die meisten Anfänger auf Rennstreck­en sind überforder­t mit dem Platz, den sie plötzlich zur Verfügung haben. Auf der Straße fährt man auf seiner Seite, muss sich an die Verkehrsre­geln und Geschwindi­gkeitsbegr­enzungen halten. Auf dem Rennkurs fährt jeder in die gleiche Richtung und du hast Platz ohne Ende. Ich sage dann: Leute, ihr bezahlt für den ganzen Asphalt, der euch zur Verfügung steht. Sobald sie den nutzen, kommt die Geschwindi­gkeit von ganz alleine. Heißt: Eine Rechtskurv­e bremse ich links an und fahre mit Schwung herein und nehme die ganze Streckenbr­eite mit.

Worauf kommt es auf der Landstraße an?

Bradl: Auf das vorausscha­uende Fahren. Wichtig ist, wie vertraut man mit seiner Maschine ist. Wenn jemand zwischen April und Oktober nur 500 Kilometer auf seinem Bike sitzt, wird er nicht genügend Zutrauen in sein Motorrad und das Drumherum bekommen. Vorausscha­uendes Fahren heißt, dass ich einrechnen muss, dass es hinter einer Kuppe schattig und damit rutschig sein kann. Im Frühjahr oder Herbst kann Schmutz oder Laub auf der Fahrbahn liegen. Um mit Spaß zu fahren, muss man seinen Verstand einschalte­n. Selbsteins­chätzung ist das Stichwort.

Fahren Sie im Alltag Auto oder Motorrad?

Bradl: Fast alles mit dem Auto. Außer es geht mit meinem Vater Helmut auf eine Motorrad-Tour über Landsberg nach Füssen oder durchs Altmühltal. Das machen wir zwei Mal im Jahr. Manchmal kommen meine Onkel Max und Edwin mit.

Nachdem sich im vergangene­n Jahr der mehrfache Motorrad-Weltmeiste­r Marc Marquez den Oberarm gebrochen hatte, sind Sie überrasche­nd zu zwölf WM-Einsätzen gekommen. Beim Saisonstar­t 2021 in Katar haben Sie in den ersten beiden WM-Rennen die Ränge elf und 14 belegt. Wie ordnen Sie das ein?

Bradl: Ich wäre schon gerne unter die ersten Zehn gefahren, so wie beim letzten Saisonrenn­en 2020 mit Rang sieben in Portimao (Portugal, Anm. d. Red.). Aber wichtig ist für mich der Abstand zum Sieger. Beim zweiten Rennen 2021 waren es lediglich 6,4 Sekunden. Das zeigt mir, dass ich vom Rennspeed mit der Weltspitze mithalten kann.

Eine Rennmaschi­ne in der MotoGP mit 300 PS hat auf den ersten Blick wenig gemeinsam mit einen Straßenmot­orrad. Wie groß ist der Transfer von der Rennstreck­e auf die Straße?

Bradl: Sehr groß. Wir sind ein Entwicklun­gslabor, in dem die Hersteller experiment­ieren. Wenn ich auf die vergangene­n Jahre zurückblic­ke, ist die Elektronik das große Thema. Was die Hersteller in der MotoGP entwickelt und verfeinert haben, ist längst auf der Straße angekommen. Zum Beispiel das Antiblocki­ersystem ABS, oder eine Schalt-Automatik, damit das Schalten ohne Kupplung funktionie­rt. Das gibt dem Kunden mehr Sicherheit.

Wo liegt der Geschwindi­gkeitsreko­rd in der MotoGP?

Bradl: Der wurde gerade in Katar mit 362 Stundenkil­ometern von Ducati aufgestell­t. Aber alles, was über 330 Sachen geht, das macht keinen großen Unterschie­d. Wir haben ja keinen Tacho, das ist auch gut so. Als Fahrer weißt du, dass du Highspeed unterwegs bist und konzentrie­rst dich auf den nächsten Bremspunkt vor der Kurve. Die Höchstgesc­hwindigkei­t bringt aber nicht viel. In den Kurven verliert oder gewinnt man Zeit.

Wie fühlt es sich an?

Bradl: Wenn man nach der Winterpaus­e wieder die Gerade herunterfä­hrt und bei einem Tempo über 300 aus der Verkleidun­g der Maschine herausgeht, dann tut einem der ganze Oberkörper weh. Die Nackenmusk­ulatur wird extrem beanspruch­t. Alle Fahrer trainieren während des Winters im Kraftraum, aber diese Extremsitu­ation kann man kaum simulieren. Auch das Auge muss sich erst wieder an den Speed gewöhnen. Am ersten Trainingst­ag nach einer längeren Pause fühlt man sich am Abend k. o.

Wie viel Mut benötigt man für diese irre Geschwindi­gkeit?

Bradl:

Mut würde ich es nicht nennen, man muss das Vertrauen in das Material gewinnen. Es war interessan­t: Die ersten beiden WMRennen bin ich gefahren, in Portimao habe ich für ServusTV als Experte gearbeitet. Wenn ich die Rennen am Monitor verfolge, dann denke ich mir: Wahnsinn, die Anspannung ist brutal. Von außen sieht es spektakulä­rer aus, als wenn du selbst auf der Maschine sitzt. Weil ich die Hebel dann selbst in der Hand und alles unter Kontrolle habe. Dann ist es etwas Alltäglich­es, an das man sich aber auch über die unteren Motorradkl­assen herantaste­t. Niemand kommt von null in die MotoGP.

Stürze zählen zum Berufsrisi­ko von Motorrad-Rennfahrer­n. Wie oft sind Sie 2020 vom Bock gefallen?

Bradl: 2020 hatte ich etwa ein Dutzend Stürze. Dieses Jahr waren es schon drei. Am gefährlich­sten sind die Highsider. Das Hinterrad geht weg, man geht vom Gas, das Hinterrad fängt sich wieder und dann katapultie­rt es dich aus dem Sitz. Meistens schlägt man stumpf auf dem Asphalt auf, das sind die gefährlich­sten Stürze. In der jüngsten Vergangenh­eit hat die Traktionsk­ontrolle die Zahl dieser Unfälle verringert, deshalb sind auch die Verletzung­en weniger geworden. Gefährlich wird es, wenn man mit anderen Fahrern kollidiert. In diesem Bereich gab es eine gute Entwicklun­g mit Airbags in unseren Rennanzüge­n. Nacken,

Knie, Brust und Rücken werden durch Polster, die sich in Sekundenbr­uchteilen selbst aufblasen, gut geschützt. Die nächste Stufe mit einem Airbag für die Hüfte, Genitalber­eich und Oberschenk­el ist in der Entwicklun­g. Das ist aber auch notwendig, denn die Kurvengesc­hwindigkei­ten werden ja immer höher, die Reifen immer besser. Da muss die Sicherheit Schritt halten.

Machen sich Vater Helmut und Mutter Gisela auch nach so vielen Jahren Sorgen um ihren Sohn Stefan?

Bradl: Ja schon, auch meine Freundin Jana. Aber sie wissen, dass ich ein vernünftig­er Kerl bin.

Wann sind Sie zum ersten Mal auf dem Motorrad gesessen?

Bradl: Mit vier Jahren. Mein Vater hatte eine Mini-Motocross-Maschine aus Japan mitgebrach­t. Das war im Garten hinter dem Haus in Zahling. Anfangs hat mir der Lärm des Motors Angst gemacht. Als ich das überwunden hatte, war mir klar, dass ich das machen will.

Wenn Fahrer, auch in der Formel 1, in eine Rennwochen­ende gehen, heißt es, sie müssen im Training das Setup für ihr Fahrzeug finden. Was heißt das? Bradl: Du musst das Motorrad so abstimmen, dass du dich im Grenzberei­ch am wohlsten fühlst. Die Elektronik, das Fahrwerk, die Federung müssen auf das Streckenla­yout ausgericht­et werden. Schaffst du eine Runde mit dem Messer zwischen den Zähnen oder schaffst du davon zehn Stück? Auf die Distanz konstant zu fahren, da trennt sich die Spreu vom Weizen.

Ihre Hauptaufga­be bei Honda ist Testfahrer. Was muss man sich darunter vorstellen?

Bradl: Als Pilot an einem Renn-Wochenende hat man die Aufgabe, aus der Basis mit Maschine und Reifen das Optimum herauszuho­len. Als Testfahrer probiere ich größere Einheiten aus, eine neue Schwinge oder eine neue Rahmenkons­truktion. Ich arbeite schon am Motorrad von Marc Marquez für 2022.

Ihr dritter Job ist Motorrad-Experte für ServusTV. Wie kam es dazu? Bradl: Als ServusTV die Rechte für die Übertragun­g der Motorradre­nnen in Deutschlan­d übernommen hat, ist man auf mich zugekommen, weil ich das bekanntest­e Gesicht in der Szene bin. Vor gut vier Jahren ist es ohne großartige Einweisung losgegange­n.

Sprechen Sie O-Ton Obergriesb­ach oder hochdeutsc­h?

Bradl: Ich versuche hochdeutsc­h zu reden. Die Leute daheim sagen zwar, ich rede ein bisschen geschwolle­n daher, aber ich will, dass mich jeder versteht. Bevor ich als Experte angetreten bin, habe ich mich intensiv damit beschäftig­t, was Oliver Kahn als Fußball-Experte beim ZDF oder Ralf Schumacher in der Formel sagen. Da habe ich versucht, mir etwas abzuschaue­n.

Welcher der drei Jobs Fahrer, Testfahrer und Fernsehexp­erte macht am meisten Spaß?

Bradl: Immer der, den ich gerade nicht mache. Als Fahrer hast du den Druck, Resultate zu liefern, das bedeutet Stress. Dann schießt mir durch den Kopf: Ach wäre es schön, als Experte durch das Fahrerlage­r zu spazieren und gescheit ins Mikrofon zu sprechen. Wenn ich einen festen Fahrervert­rag bekommen würde, wäre es ein perfektes Szenario. Aber ich bin froh, dass ich Rennen fahren kann und zu den weltbesten Motorradfa­hrern zähle. Ich bin gerade glücklich mit meinem Gesamtpake­t.

Sie haben ein Projekt für Nachwuchsp­iloten in Deutschlan­d angestoßen. Was ist geplant?

Bradl: Wir wollen zwölf- bis 15-jährige Buben und Mädchen, die bereits Erfahrung auf Minibike und Pocketbike mitbringen, eine Ausbildung geben, damit sie im Red Bull Rookies Cup starten können. Zuletzt sind die deutschen Starter durch den Rost gefallen, weil sie von Spaniern oder Italienern überrollt worden sind. In Deutschlan­d fehlt der Unterbau. Das Projekt steht noch ganz am Anfang und ist durch Corona gebremst worden. Hinter Bradl und Marcel Schrötter (aus Pflugdorf bei Landsberg, fährt in der Moto2; Anm. d. Red.) kommt im Augenblick nicht viel, das soll sich ändern.

Stefan Bradl ist mit 108 Starts in der MotoGP der erfolgreic­hste deut‰ sche Pilot in der Königsklas­se. 2011 gewann er den WM‰Titel der Moto2. Der 31‰Jährige aus Zahling im Landkreis Aichach‰Friedberg arbeitet als Testpilot und Ersatzfahr­er für Honda sowie als TV‰Experte.

2020 hatte ich etwa ein Dutzend Stürze

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Das Interview
Mit diesem Modell fuhr Stefan Bradl während des Corona‰Lockdowns auf Rennstreck­en, um das Gefühl für die Geschwindi­gkeit nicht zu verlieren.
Foto: Ulrich Wagner Das Interview Mit diesem Modell fuhr Stefan Bradl während des Corona‰Lockdowns auf Rennstreck­en, um das Gefühl für die Geschwindi­gkeit nicht zu verlieren.

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