Und wann komme ich dran?
Knapp 23 Prozent der Deutschen sind zumindest einmal gegen das Coronavirus geimpft. Unter denen, die es auch gerne wären, wächst derweil der Impfneid. Über die Ausbreitung eines unschönen Gefühls
Neid. Großes, hässliches, böses Wort. Man kann den Charakter des Wortes auch nicht verändern, indem man es mit einem anderen, schöneren koppelt. Sozial und Neid zum Beispiel. Oder Futter und Neid. Im kalten Licht des Neids wirkt alles klein und schäbig. Also vor allem man selbst, der neidische Mensch. Nun ist zu den ohnehin mannigfaltigen auch noch eine neue Spielart hinzugekommen: der Impfneid, ausgerufen schon als Frühlingsgefühl des Jahres (was das Wort aber ebenfalls nicht hübscher macht).
Knapp 23 Prozent der Deutschen sind mittlerweile zumindest einmal geimpft, was nicht bedeutet, dass 77 Prozent noch warten. Manche wollen ja auch nicht – knapp 35 Prozent, ergab die letzte Umfrage der Bertelsmann-Stiftung. Die meisten aber wollen doch. Einige gar so unbedingt, dass sie wie in Hamburg mit gefälschten Papieren im Impfzentrum auftauchen oder den Impftrip nach Moskau buchen. Impfgier in diesem Fall. Der Rest aber: Er wartet. Prüft noch einmal eigene Priorisierungsmöglichkeiten. Bluthochdruck, nein, auch nicht. Ruft vielleicht mal beim Hausarzt an, also nicht, dass man sich vordrängeln wolle, aber ... Witzelt mit Freunden und Kollegen das Unbehagen weg und das in den Gedankengängen gefangene Echo der Worte von Karl Lauterbach, nun werde es die Mittelalten hart treffen. Fragt bei den Geimpften nach: „Und, was hast du bekommen, das gute Zeug?“Je nach Impfstoff färbt sich dann der Impfneid gerne noch ein bisschen grüner: Biontech, du Glücklicher ...
Jedenfalls spüren nicht wenige Menschen in sich gerade eben genau jenes ungute, ja irgendwie doofe Gefühl. In einer Forsa-Umfrage für die Zeitschrift Stern waren es 40 Prozent, die zugaben, auf Menschen, die geimpft sind, neidisch zu sein. Gut möglich, dass es mehr sind, denn den Neid spielt man gerne herunter, versteckt ihn, verleugnet ihn. Weshalb Friedrich Nietzsche ihn neben der Eifersucht zu den „Schamteilen der menschlichen Seele“zählte. Im Todsünden-Ranking der Kirche steht der Neid an vorletzter Position, gefühlt aber auf Platz eins. Zur eigenen Faulheit, zum Zorn oder gelegentlichen Völlerei mag der eine oder andere stehen – „weißt du, ich bin halt ein Genussmensch“oder „Mit mir gehen halt manchmal die Pferde durch“– aber Neid? Wie hässlich! So hat ihn auch Giotto 1305 in seinem Fresco Invidia, eine der ältesten und berühmtesten Darstellungen von Neid, gemalt: Als Schlange, die sich aus dem Mund des Missgünstigen windet und Giftzähne gegen dessen Augen wendet. Der zerfressende Neid, der einen blind macht. Dagegen macht sich der Impfneid dann doch wie eine Ringelnatter aus ...
Dass der Neid gerade größer wird, liegt in seinem Wesen begründet. Er lebt und nährt sich durch den Vergleich vor allem mit jenen, die uns umgeben, uns ähnlich sind – denen, die sozusagen in der gleichen Priorisierungsgruppe stecken. „Der Töpfer grollt dem Töpfer und der Zimmermann dem Zimmermann, es neidet der Bettler den Bettler und der Sänger den Sänger“, formulierte 700 vor Christus der Dichter Hesiod. In den Worten von Eckehard Pioch, Psychoanalytiker und Vorsitzender des Psychoanalytischen Instituts Berlin, klingt das corona-aktuell modifiziert dann so: „Am Anfang hatte die Pandemie-Lage etwas Gleichmachendes, alle waren gleichermaßen betroffen. Aber jetzt gibt es mit dem Impfstoff ein erst mal noch knappes Gut, das für alle begehrenswert ist. Diese Mangelsituation ruft geradezu den Vergleich hervor. Schnell stellt sich die Frage: Wieso wird der andere geimpft und ich noch nicht? Die Kriterien der Verteilung werden infrage gestellt und der eigene Mangel wird einem bewusst.“
Und das jeden Tag ein wenig mehr, da um einen herum die Impfquote in die Höhe schnellt – und damit schon auch mal der Gedanke, ob man nicht doch noch ein paar Hebel in Bewegung setzen sollte. Anderseits, das Stigma des Dränglers will man auch nicht tragen. Verteilt wird der Impfstoff ja derzeit noch nach Bedürftigkeit (– die aber auch nicht immer zu erkennen ist). Sich da an der Schlange vorbeizuschlängeln, fühlt sich so wenig gut an wie Neid.
Die Freundin aus Hamburg berichtet derweil vom sogenannten Schwangerenticket: Kennst du eine Schwangere, deren Mann vielleicht schon geimpft ist, dann kann sie dich als Kontaktperson angeben? Habe die Kollegin so gemacht. Eine andere scherzt über all diese braven Enkelkinder, die laut Bescheinigung ihren (womöglich geimpften und quietschfidelen) Großeltern liebevoll zur Seite stehen, und so zur Spritze gekommen sind.
Schön ja zumindest dies: Selten wurde über Neid auch so lustvoll gescherzt. Fast schon Small-TalkThema, der Scham beraubt. Aber die Gruppe, mit der man lacht, wird natürlich kleiner. Jeder will da so schnell wie möglich raus. Unter dem Hashtag Elternimpfen fordern beispielsweise in den sozialen Netzwerken Mütter und Väter, endlich an die Reihe zu kommen, wegen der vielen Kontakte. Klar, kann man verstehen – wie ja eigentlich alle anderen auch. Es gibt ja niemanden, der diesen Stoff nicht verdient. Über all diesen Debatten haben manche derweil längst stillschweigend die Beine in die Hand genommen – Richtung Hausarztpraxis oder Impfzentrum.
Hand in Hand stand man in dieser Pandemie ja auch noch nie, sondern von Beginn an allein am Fenster, auf Balkon und Terrasse, um für die Helden dieser Zeit zu klatschen. Aber Solidarität, ein Gemeinschaftsgefühl, das zählte dennoch auch zum schwierigen Frühlingsemotionsmix des vergangenen Jahres. In der derzeitigen Impfstoff-Mangelwirtschaft ist davon immer weniger zu spüren, zumal sich der kleine und größere Neid ja auch wunderbar durchs Jahr gefressen hat: weil es vielleicht allen nicht besonders gut ging, aber manchen schlechter, manchen besser. Und es ist nicht die Rede vom Homeoffice auf den Bahamas, das auch immer so etwas Märchenhaftes an sich hatte...
Jedenfalls: Wenn nun einige der Älteren bei AstraZeneca dankend ablehnen und lieber auf den anderen Stoff warten, dann mag man eine gewisse Besorgnis angesichts eines Hin und Her wohl verstehen, aber von der Solidarität, die sie den Jungen das ganze Jahr über abverlangten, ist leider gar nichts mehr aufzuspüren. Die Jungen nämlich müssen warten... und, mal überspitzt, sollen dann auch noch ertragen, dass sie für die Schule oder die Uni den Sommer über weiter vor Bildschirmen lernen und auf Klassenfahrten, Abschlussfeste, Sommertaumel verzichten, während mancher fröhliche Freigeimpfte über einen netten Ausflug in den Harz oder vielleicht gar Mallorca nachdenkt. Dass vor allem die Jungen Impfprivilegien, also die Rückgabe aller Rechte für Geimpfte, ablehnen, auch das kann man irgendwie verstehen. Ebenso wie die mittlerweile auch zu hörende Forderung, nun die Jugend zu priorisieren, damit die endlich ins wilde Leben entlassen werden kann. Müssen die Mittelalten natürlich noch ein bisschen länger warten ...
Zurück zum Neid. Ist das nun also schwarzer Neid, böse und zerstörerisch, siehe Kain? Oder doch der weiße, gute, generöse, der einen ins Handeln bringt? Würde man jene 40 Prozent, die sich zum Impfneid bekennen, fragen, ob sie den anderen den Impfstoff nicht gönnen, würde vermutlich nur ein kleiner Bruchteil mit Ja antworten. Es geht ja nicht um „Der soll nicht“, sondern um „Ich will auch“. Was hinterm kleinen sticheligen Impfneid steht, ist nur die blanke Sehnsucht. Nach Normalität, Sicherheit, Unbeschwertheit, Freiheit. Im Übrigen ist er – auch mal schön zu hören – in diesem Fall dann doch keine deutsche Eigenart. Auch die New York Times diagnostiziert „Vaccine Envy“und zitiert einen 36-Jährigen: „Es ist so, wie wenn sich jeder Freund vor dir verlobt.“Impfen als Fall für die Fomo, die Angst etwas zu verpassen.
Was also tun? Erstrebenswert sei, vom destruktiven zum konstruktiven Neid zu kommen, sagt Psychoanalytiker Pioch. Man könne vielleicht auch Handlungsmöglichkeiten für sich entdecken, indem man Kompromisse macht: sich zum Beispiel halt doch auf einen anderen Impfstoff einlässt. Ansonsten bleibt nur dies: Akzeptieren, dass es die Grenzen gibt! Und derweil sich im Gönnen können üben – „vielleicht eine unserer größten Aufgaben in diesen verrückten Zeiten“, wie der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche, Heinrich Bedford-Strohm, glaubt. Dafür darf man sich mit Millionen von anderen auch das Pflaster der persönlichen Integrität auf die kleine Wunde pappen – bis die Mail oder der Anruf vom Impfzentrum kommt. Ende Mai soll die Impfpriorisierung fallen, dann könnte es ja ganz schnell gehen. Spätestens Spätsommer. Dann übrigens wartet – nach Impfneid und Impfgier – schon das nächste Laster, das aber die Eindämmung der Pandemie hemmen könnte, wie Experten warnen: Impfträgheit!
Das Stigma des Dränglers will man auch nicht tragen