Der Heilsbringer
Der „schläfrige Joe“hat in den ersten 100 Tagen als US-Präsident seinen Spitznamen widerlegt. Er packt überfällige Reformen an, versprach 100 Millionen Impfungen. Jetzt sind es doppelt so viele. Doch ein Problem könnte für Biden größer werden als der Kamp
Washington Ein bisschen stolz ist er schon, als er ans Rednerpult tritt. Doch anmerken lässt es sich Joe Biden nicht. Das Auditorium des Eisenhower-Gebäudes gegenüber dem Weißen Haus ist am vorigen Mittwoch nur karg dekoriert: Allein zwei Fahnen und eine blaue Wand mit einer „200“hinter dem Präsidenten deuten den Anlass an. Biden erinnert an sein Versprechen, während der ersten 100 Amtstage 100 Millionen Impfungen zu ermöglichen. Tatsächlich seien doppelt so viele Spritzen gesetzt worden. „Wir haben es geschafft!“, freut sich der 78-Jährige kurz. Doch sein Vortrag folgt unaufgeregt dem Text, den der Teleprompter vorgibt.
Mehr als die Hälfte der Amerikaner mindestens einmal geimpft, ein Drittel komplett immunisiert – was hätte Donald Trump aus diesem Erfolg
gemacht? Eine bombastische Show voller Selbstlob und Übertreibungen. Biden verzichtet auf Triumphgeheul. Seine Botschaft lautet stattdessen: „Das ist eine amerikanische Leistung. Sie erinnert daran, was wir erreichen können, wenn wir als Volk für ein gemeinsames Ziel an einem Strang ziehen.“Es spricht der Versöhner, der Mutmacher, der Landesvater. Und der Antreiber, der ein bemerkenswertes Tempo vorgelegt hat. Als „Sleepy Joe“(schläfriger Joe) hatte Trump seinen Nachfolger verhöhnt. Wenn dieser am Donnerstag seinen 100. Amtstag begeht, ist der Spottname endgültig widerlegt: Nicht nur die Impfkampagne in den USA läuft unter Biden im Turbogang. Seit dem 20. Januar hat der neue Präsident ein gigantisches 1,9 Billionen Dollar schweres Corona-Hilfspaket durch den Kongress geboxt und ein weiteres 2,3 Billionen Dollar umfassendes Infrastrukturpaket vorgelegt. Er hat nach zwei Jahrzehnten den Afghanistan-Einsatz beendet, eine Polizeireform vorangetrieben und 40 Regierungschefs zu einem virtuellen Klimagipfel versammelt.
Laut Umfragen sind 52 Prozent der Amerikaner mit der Arbeit des neuen Präsidenten zufrieden – mehr als zu diesem Zeitpunkt vor vier Jahren mit seinem Vorgänger Trump. „Das war ein interessanter, unerwartet sozialliberal-fortschrittlicher Auftakt“, urteilt Michael Werz, der die amerikanische Politik seit vielen Jahren bei der Washingtoner Denkfabrik Center for American Progress (CAP) analysiert. Der linke US-Schriftsteller Anand Giridharadas schwärmt im Magazin The Atlantic gar euphorisch: „Viele von uns dachten, wir wüssten, wie eine Biden-Präsidentschaft aussehen würde, und haben nicht viel erwartet. Nun fragen wir uns: Wie konnten wir so danebenliegen?“
Tatsächlich hat Biden in den ersten Amtsmonaten die irrwitzige Temperatur der politischen Auseinandersetzung im Land deutlich gesenkt. Der Präsident twittert nicht, er vermeidet jegliche Schulhof-Prügeleien mit seinem Vorgänger Trump, und das Wort „überparteilich“kommt in fast jeder seiner Reden vor. Nach vier Chaos-Jahren ist im Weißen Haus eine wohltuende Ruhe und Verlässlichkeit mit täglichen Pressekonferenzen und regelmäßigen Unterrichtungen zur Corona-Lage eingekehrt. Die einzigen kamen bislang von Bidens dreijährigem Schäferhund Major, der offenbar verstört von der neuen Umgebung zwei Mitarbeiter biss und ein Häufchen im Empfangssaal unter dem Oval Office absonderte.
Ganz im Gegensatz zum Selbstvermarkter Trump verspricht Biden lieber zu wenig und liefert dann – wie bei der Impfkampagne – deutlich mehr. Ohnehin redet er weniger als sein Vorgänger. Seine Ansprachen sind kurz, seine Auftritte genau inszeniert, spontane Nachfragen durch Journalisten aufgrund der Covid-Restriktionen kaum möglich. Das macht es Biden leichter, die öffentliche Aufmerksamkeit auf einem Thema zu halten. Zugleich verringert es auch die Gefahr von unfreiwilligen Versprechern, für die der neue Präsident berüchtigt ist.
Gelegentliche Patzer gibt es trotzdem. Etwa vor zwei Wochen, als Biden im Rosengarten seinen ersten Staatsgast begrüßte. Hinter zwei pandemiekonform distanzierten Rednerpulten hatten der Präsident und der japanische Premierminister Yoshihide Suga ihre Statements vorgetragen. Mehrere Journalisten hoben die Hände. „Möchten Sie eine Frage stellen?“, wandte sich Biden an Suga, um eilig zu korrigieren: „Ich meine: jemanden aufrufen?“Heiterkeit provozierte ein paar Tage später auch sein öffentlicher Dank an die Besitzerin eines Haarsalons in Ohio, die in „ihrem Saloon“ehrenamtlich Impftermine für Kunden vereinbare.
Doch das von solchen verbalen Ausrutschern verstärkte Klischee des netten, aber senilen „Opa Joe“täuscht gewaltig. Der Präsident hat eine ambitionierte Agenda für die nächsten Monate. Er und sein Beraterteam wissen genau, dass sie wenig Zeit haben: Schon im Herbst 2022 könnte die Mehrheit im Kongress verloren gehen. Die Republikaner arbeiten wilder denn je daran, zurück an die Macht zu kommen. Seinen Plan zur Überwindung der Spaltung des Landes hat Biden schon im vergangenen Oktober skizziert – nicht in Washington, sondern im ebenso ländlichen wie konservativen Norden des Bundesstaats Georgia, wo er demonstrativ das Domizil des 32. Präsidenten Franklin D. Roosevelt besuchte, der Amerika einst durch die Weltwirtschaftskrise steuerte. „Dieser Platz verkörpert einen Weg nach vorne, einen Weg der Wiederherstellung und der Heilung“, sagte er damals.
Ähnlich wie Roosevelt mit seinen Wirtschafts- und Sozialreformen des „New Deal“setzt auch Biden auf mutige öffentliche Initiativen. Mit dem Corona-Hilfspaket verlängerte er die Arbeitslosenhilfen, erhöhte den Kinderfreibetrag und zahlte fast jedem Bürger 1400 Dollar aus. Der Infrastrukturplan soll geAusfälle waltige Summen für die Modernisierung von Straßen, Schienen, Brücken, Stromleitungen oder Breitbandnetzen und den Umstieg des Landes auf saubere Energien mobilisieren. In dieser Woche dürfte noch ein gewaltiges Familien-Programm folgen, das dreistellige Milliardenbeträge für Kinderbetreuung, bezahlten Erziehungsurlaub und kostenlose Studiengänge vorsieht. Das alles soll durch Steuererhöhungen für Unternehmen und Superreiche finanziert werden. „Joe Biden stößt eine nachholende Sozialdemokratisierung der USA an“, ist CAP-Experte Werz überzeugt.
Während Ex-Präsident Trump systematisch das Fundament der Demokratie untergraben und die Gesellschaft auseinandergetrieben hat, will Biden durch möglichst unideologische Projekte aktuelle Nöte lindern und die ärgsten Auswüchse des Kapitalismus reparieren. So hofft er, das Land wieder zusammenzuführen. Dahinter steckt eine radikale Abkehr vom Erbe Ronald Reagans. Mit dem Satz „Die Regierung ist nicht die Lösung eurer Probleme, sondern die Regierung ist das Problem“hatte der Ex-Präsident 1981 den Weg für jene Staatsverachtung bereitet, die unter Trump ihren Höhepunkt erreichte. Vier Jahrzehnte später will Biden nun das Gegenteil beweisen. Deshalb ist es für ihn enorm wichtig, dass seine Impfkampagne und die Gesetzespakete ein Erfolg werden.
Tatsächlich hat der Präsident in den ersten 100 Tagen bemerkenswert viele Versprechungen umgesetzt. Doch nicht alles liegt in seiner Hand. Das gilt nicht nur für die wacklige politische Mehrheit im Senat, sondern vor allem für die Entwicklung an der Grenze zu Mexiko. Dort konterkariert ein wachsender Andrang von Menschen, die vor Gewalt und Naturkatastrophen in Mittelamerika fliehen, Bidens Vorhaben einer langfristigen liberalen Reform des Einwanderungsrechts. Mehr als 170 000 Migranten wurden alleine im März aufgegriffen. Das sind 70 Prozent mehr als im Vormonat, und die Statistiken zeigen weiter nach oben. Die Regierung wirkte zunächst unvorbereitet und agierte wenig glücklich, während die rechten TV-Stationen das Thema gnadenlos ausschlachten. Laut einer
Der Präsident reformiert die umstrittene Polizei
Die Republikaner sind auf Zerstörung aus
Umfrage des renommierten PewInstituts halten inzwischen knapp mehr Amerikaner die illegale Einwanderung anstelle der CoronaPandemie für das größte Problem ihres Landes.
Bidens Hoffnung, dank seiner langjährigen Erfahrung im Senat pragmatische Vorhaben gemeinsam mit Republikanern durchbringen zu können, hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Mit dem Verlust des Weißen Hauses hat sich die TrumpPartei endgültig auf einen von Ressentiments getriebenen Kurs der politischen Destruktion begeben. „Das aufzubrechen und Teile der republikanischen Partei in das demokratische Verfassungsspektrum der USA zurückzuführen, ist die große Herausforderung für Biden“, sagt Werz. Aber kann das gelingen in einer dermaßen polarisierten Gesellschaft? Da möchte Werz keine abschließende Prognose wagen. „Zunächst“, antwortet er, „hat Joe Biden dem Land nicht mehr als eine Atempause verschafft.“