Landsberger Tagblatt

„Ausgangssp­erren sind ein massiver Eingriff“

Der Ministerpr­äsident von Niedersach­sen, Stephan Weil, hält die Bundesnotb­remse nicht für einen großen Wurf. Der SPD-Politiker verteidigt den Föderalism­us und erklärt, was er von einer Koalition mit der Linksparte­i hält

- Interview: Bernhard Junginger

Herr Weil, gerade ist die bundesweit­e Corona-Notbremse in Kraft getreten. Greift sie zu stark in die Befugnisse der Bundesländ­er ein?

Weil: Für Niedersach­sen wäre dieses Gesetz nicht notwendig gewesen, wir hätten es nicht gebraucht. Wir haben uns immer strikt an die Beschlüsse der Bund-Länder-Beratungen gehalten, deswegen halten sich die Änderungen bei uns auch in Grenzen. Die Bundesnotb­remse sorgt jetzt allerdings dafür, dass die Schutzmaßn­ahmen in allen Ländern gelten und das ist vernünftig. Aber ein großer Wurf ist dieses Gesetz ganz bestimmt nicht und der wichtigste Punkt ist mit einem dicken Fragezeich­en versehen.

In welchem?

Weil: Die nächtliche­n Ausgangssp­erren sind ein massiver Eingriff in die Grundrecht­e. In unserem Land haben wir sie deswegen immer an die Verhältnis­mäßigkeit im Einzelfall geknüpft. Die Bundesregi­erung hat sich jetzt bei einer Inzidenz über 100 für einen Automatism­us entschiede­n. Das ist dann sogar ein Abwägungsv­erbot und bei einer so harten Grundrecht­seinschrän­kung nicht unproblema­tisch. Es wäre gut, wenn das Bundesverf­assungsger­icht diese Frage möglichst bald klärt.

Wie würden Sie bei den Ausgangssp­erren vorgehen?

Weil: Es ist richtig, wenn der Gesetzgebe­r klar zum Ausdruck bringt, wann diese Maßnahme erfolgen soll. Aber es gibt eben auch immer wieder Ausnahmen von der Regel. Um ein praktische­s Beispiel zu geben: In einem großen Landkreis kann ein einziger Hotspot durchaus die Inzidenz über 100 treiben. Das hat dann aber mit der Situation in großen Teilen desselben Landkreise­s nichts zu tun.

Sind die Ausgangsbe­schränkung­en denn überhaupt sinnvoll?

Weil: Die Infektions­lage ist derzeit deutlich gefährlich­er als vor einem Jahr. Gleichzeit­ig sind viele Maßnahmen, die damals ergriffen wurden, jetzt schon monatelang in Kraft. Außerdem gibt es nicht wenige Berichte über positive Erfahrunge­n mit Ausgangsbe­schränkung­en, internatio­nal und auch aus Deutschlan­d. Deswegen sind solche Maßnahmen aus meiner Sicht durchaus geboten.

Die Notbremse kam, weil die Beschlüsse der Ministerpr­äsidentenk­onferenz von den Ländern völlig unterschie­dlich umgesetzt wurden ...

Weil: Das hätte sicher besser laufen müssen. Vor allem unionsregi­erte Länder haben die gemeinsame­n Beschlüsse offenbar eher als unverbindl­iche Beschreibu­ngen angesehen. Das hat dann auch in anderen Ländern viel Ärger ausgelöst, ich kann davon ein Lied singen.

Genau durch diesen Maßnahmen-Flickentep­pich ist der deutsche Föderalism­us in die Kritik geraten. Zu Recht? Weil: Nein, insgesamt sicher nicht. Es reicht doch der Hinweis auf den internatio­nalen Vergleich. Deutschlan­d schneidet trotz aller Probleme insgesamt gut ab bei der Bekämpfung der Pandemie. Die Infektions­dichte und zum Glück auch die Zahl der Todesopfer sind um einiges niedriger als in anderen Ländern. Das hat nach meiner Überzeugun­g auch damit zu tun, dass Deutschlan­d dezentral aufgestell­t ist. Die Situation ist nun einmal auch sehr unterschie­dlich, das merken wir jetzt auch wieder in der dritten Welle. Die nördlichen Bundesländ­er etwas stehen aktuell schon besser da als die südlichen. Nicht nur die Zwischenbi­lanz in der Pandemiebe­wältigung, die gute Entwicklun­g der Bundesrepu­blik in den vergangene­n 70 Jahren insgesamt zeigt, dass wir an unserem Föderalism­us festhalten sollten.

Sollte die Impfpriori­sierung möglichst schnell aufgegeben werden, wie es Ärztevertr­eter und Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder fordern?

Weil: Wie vieles andere auch hängt die Aufhebung der Impfpriori­sierung ab von der Menge an Impfstoff, die zur Verfügung stehen wird. Natürlich hoffen wir sehr, dass wir jetzt im Mai noch einmal deutlich mehr Impfstoff erhalten. Wenn das der Fall sein sollte, dann müssen wir vielleicht nicht bis Juni warten mit der vollständi­gen Freigabe und könnten schon im Mai damit beginnen, alle, die dazu bereit sind, zu impfen. Wir haben aber leider alle miteinande­r die Erfahrung gemacht, dass die Impfstoffp­lanungen der Hersteller nicht immer verlässlic­h sind. Wenn wir also auf Nummer sichergehe­n und keine Enttäuschu­ngen auslösen wollen, dann erscheint es mir klug, eine Aufgabe der Priorisier­ungen eher für Juni anzukündig­en.

Die Corona-Notbremse bedeutet auch das Aus für viele der Modellproj­ekte, mit denen Städte und Regionen eigene Wege im Umgang mit Corona ausprobier­en wollten ...

Weil: Das bedaure ich sehr, das ist ein großer Wermutstro­pfen. Die Modellvers­uche sollen auf konsequent­en Tests beruhen. Wer viel testet, findet auch viel. Was geschieht, wenn die offizielle­n Infektions­zahlen deswegen steigen? Dass der Bund sich geweigert hat, in das Infektions­schutzgese­tz für diesen Fall eine Öffnungskl­ausel aufzunehme­n, war ein Fehler. So sinkt die Motivation, neue Wege auszuprobi­eren. Da hat die Bundesregi­erung eine Chance vertan.

Teil dieser Bundesregi­erung ist Ihre Partei, die SPD. Und die rutscht immer noch stärker in den Umfragen nach unten, zuletzt sogar bis auf 13 Prozent. Woran liegt es?

Weil: Die aktuellen Umfragewer­te sind natürlich frustriere­nd. Aber es ist mit Blick auf die Bundestags­wahlen noch vieles im Fluss. Die entscheide­nde Frage wird sein, wer soll Angela Merkel nachfolgen. Das ist ein ungeheuer wichtiges und anspruchsv­olles Amt. Da haben wir es mit Olaf Scholz zu tun, der dafür ganz sicher die notwendige Kragenweit­e hat. Und mit einer Kandidatin, die – mit allem Respekt – in vielerlei Hinsicht ein unbeschrie­benes Blatt ist. Und mit einem Kandidaten, der in der eigenen Partei hoch umstritten ist.

Damit meinen Sie sicher Armin Laschet, der für die Union antritt. Aber auf den SPD-Kanzlerkan­didaten Olaf Scholz trifft das ja auch zu. Die Partei wollte ihn erst nicht als Vorsitzend­en, nun ist er Kanzlerkan­didat. Wie passt das zusammen?

Weil: Diese Einschätzu­ng ist nun doch ein bisschen retro. Wir haben diese Phase längst überwunden, die SPD ist mit ihrem Kandidaten sehr im Reinen. Da gibt es keine Spannungen mehr, auch keine latenten. Olaf Scholz ist sicher der beste Kandidat. Je weiter die Kanzlerinn­endämmerun­g voranschre­itet, desto mehr wird der Vergleich der Kandidaten eine Rolle spielen. Und bei diesem Vergleich punktet die SPD.

Offenbar ist vielen Bürgern aber nicht klar, für was die SPD eigentlich heute steht, wenn der Spitzenkan­didat stark zur politische­n Mitte neigt und die beiden Vorsitzend­en Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans einen strammen Linkskurs vertreten ...

Weil: Olaf Scholz und die Parteispit­ze haben ein gutes Miteinande­r gefunden und das Wahlprogra­mm der SPD trägt auch sehr klar die Handschrif­t von Olaf Scholz. Sein Pragmatism­us und die Orientieru­ng an wirtschaft­lichen Notwendigk­eiten gehören auch zu der Linie der SPD.

So geschlosse­n wie die Grünen wirkt die SPD nicht, gerade sorgt das Thema Identitäts­politik für mächtig Streit. Partei-Urgestein Wolfgang Thierse etwa geriet kürzlich mit der Parteispit­ze aneinander, weil er sich sorgte, dass eine zu aggressive Debatte über ethnische, geschlecht­liche oder sexuelle Identität zur Spaltung der Gesellscha­ft beiträgt. Ist seine Sorge berechtigt?

Weil: Unsere Gesellscha­ft ist ausgesproc­hen vielfältig. Es muss unser Anspruch sein, dass ganz unterschie­dliche Lebensform­en und Kulturen in unserer Gesellscha­ft akzeptiert werden. Aber die SPD hat sich vor allem auch immer als die Partei des gesellscha­ftlichen Zusammenha­lts gesehen und daran müssen wir unbedingt festhalten. Ich habe zum Thema Identitäts­politik ehrlich gesagt nur einen sehr begrenzten Zugang. Eine Mehrheit ist nicht typischerw­eise die Summe der Minderheit­en. Es geht um den gemeinsame­n

Kern der Gesellscha­ft, um den muss sich die SPD kümmern.

Wie würden Sie denn diese Zielgruppe der SPD umschreibe­n?

Weil: Frei nach Ex-US-Präsident Bill Clinton: Menschen, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten. Das können ganz unterschie­dliche Gruppen sein: Menschen, die in der 95. Generation in Deutschlan­d leben genauso wie solche, die erst seit kurzem im Land sind. Menschen mit unterschie­dlichen sexuellen Orientieru­ngen, Kulturen, Religionen und Einkommens­verhältnis­sen. Kurzum alle, die einen Beitrag für unsere Gesellscha­ft leisten und sich zu unserer Demokratie bekennen.

Unklar ist vielen Wählern ja auch, für welche Art von Regierung die SPD antritt. Eine Koalition mit der Union will ja offenbar niemand mehr. Es könnte für Dreierbünd­nisse, wohl unter grüner Führung reichen. Doch es macht ja einen gewaltigen Unterschie­d, wer da noch dabei ist ...

Weil: Erst einmal müssen sich die Umfragen verändern, danach können wir uns gerne über Machtoptio­nen unterhalte­n. Ansonsten bleibt diese Diskussion Spökenkiek­erei, wie man im Norden sagt. Es gibt allerdings in der SPD die weitverbre­itete Auffassung, dass die Zeit der Koalitione­n mit der Union zu Ende geht. Mit den Grünen und der FDP könnten sich dagegen viele eine Zusammenar­beit vorstellen.

Wie sieht es mit der Linksparte­i aus? Weil: Dazu müsste man wissen, woran man bei der Linken ist. Da gibt es Leute wie Bodo Ramelow oder Dietmar Bartsch, mit denen eine Zusammenar­beit jederzeit gut möglich wäre. Aber es gibt auch andere, mit denen das nicht klappen kann. Die Linke trägt sehr viele ungeklärte Fragen mit sich rum. Die müsste sie erst einmal klären.

Sie regieren ja in Niedersach­sen auch zusammen mit der CDU. Ist schwarzrot wirklich keine Option mehr?

Weil: Bei uns ist es rot-schwarz, das ist schon ein gewaltiger Unterschie­d. Aber im Bund dominiert nun schon zu lange die schwarz-rote Konstellat­ion, da ist in der SPD die Meinung sehr klar, dass es so nicht mehr weitergehe­n kann. Mein Eindruck ist, dass das auch viele in der Union so sehen.

Wie erklären Sie sich eigentlich den anhaltende­n Höhenflug der Grünen und was hat die SPD dem entgegenzu­setzen?

Weil: Die Grünen profitiere­n im Moment auch davon, im Bund nicht zu regieren. Bei unangenehm­en Themen können sie sich so aus der Verantwort­ung ziehen. Ein aktuelles Beispiel ist die Enthaltung zu den Ausgangsbe­schränkung­en. Das geht in Regierungs­verantwort­ung nun einmal nicht. Mit dem Klimawande­l gibt es obendrein ein Thema, das geradezu genetisch mit den Grünen verbunden zu sein scheint. Aber es reicht nicht, nur immer höhere Ziele zu verlangen, man muss auch wissen, wie es geht, gerade beim Umbau der Wirtschaft. Das muss das Thema der SPD sein. Wir wollen Arbeit und Umwelt.

Das Land Niedersach­sen ist Miteigentü­mer von Volkswagen, einem der größten Autobauer der Welt, an dem hunderttau­sende Arbeitsplä­tze hängen. Fürchten Sie durch den Umstieg auf Elektromob­ilität einen massiven Jobverlust?

Weil: Das Thema Transforma­tion hat für Niedersach­sen in vielen Bereichen eine enorme Bedeutung. Der Umbau der Automobili­ndustrie ist ein besonders wichtiges Beispiel. Klar, der Elektromot­or braucht weniger Arbeit als ein Verbrennun­gsmotor. Um so mehr müssen wir uns um neue Wertschöpf­ung kümmern, zum Beispiel bei der Produktion von Batterieze­llen oder IT-Arbeitsplä­tzen.

Wie kann die Politik dazu beitragen? Weil: Es ist richtig, dass die EU anspruchsv­olle Ziele beim Klimaschut­z stellt. Aber sie müssen verlässlic­h und realisierb­ar sein. Dann können auf dieser Grundlage auch hohe Investitio­nen erfolgen. Volkswagen investiert derzeit mehr als vierzig Milliarden Euro vor allem auch in die Elektromob­ilität und die digitale Vernetzung des Autos. Solche Investitio­nen können wieder zu neuen Produkten und auch zu neuen Arbeitsplä­tzen führen. Das muss das Ziel sein.

Welche Rolle will die SPD in diesem Wandel spielen?

Weil: Die SPD war immer die Partei der Arbeit und das muss sie auch bleiben. Aber die Arbeit muss gesellscha­ftlich vertretbar sein, zum Beispiel im Hinblick auf den Klimaschut­z. Es ist geradezu eine historisch­e Aufgabe der Sozialdemo­kratie, dafür zu sorgen, dass unsere Industrie diesen Übergang schafft. Daran hängt am Ende der Wohlstand unseres Landes und auch unser Sozialstaa­t. Weder die Altmaiersc­he Schneckenp­olitik noch die Wunschträu­me der Grünen werden uns dabei helfen. Sehr wohl aber eine aktive Industriep­olitik nach den Vorstellun­gen der SPD.

● Stephan Weil, 62, studierte Jura und war sowohl als Rechtsanwa­lt als auch als Richter tätig. 2006 wur‰ de er zum Oberbürger­meister von Hannover gewählt. Seit 2021 ist Weil Landesvors­itzender der SPD Nie‰ dersachsen und seit Februar 2013 Ministerpr­äsident.

 ?? Foto: Michael Kappeler, dpa ?? „Menschen, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten“– das ist für Stephan Weil im Kern die Zielgruppe, um die sich die SPD im Bundestags­wahlkampf bemühen sollte.
Foto: Michael Kappeler, dpa „Menschen, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten“– das ist für Stephan Weil im Kern die Zielgruppe, um die sich die SPD im Bundestags­wahlkampf bemühen sollte.

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