Landsberger Tagblatt

„Anzeige erstatten? Das bringt doch eh nichts“

Erneut haben in Bayern antisemiti­sche Straftaten zugenommen. Doch viele Juden sind es leid, Übergriffe zu melden. Warum das eine verzwickte Situation ist, erklärt der Antisemiti­smusbeauft­ragte der Generalsta­atsanwalts­chaft München

- VON MARIA HEINRICH

München Die Entwicklun­g ist beunruhige­nd. Vor wenigen Tagen stellte Bayerns Innenminis­ter Joachim Herrmann (CSU) den Verfassung­sschutzber­icht 2020 vor. Die darin genannten Fallzahlen im Bereich antisemiti­sche Straftaten geben Anlass zur Sorge. Denn erneut ist die Anzahl judenfeind­licher Delikte im vergangene­n Jahr gestiegen. 2018 wurden in Bayern 219 Straftaten verzeichne­t, 2019 waren es 307, 2020 dann 353. Eine ähnliche Entwicklun­g ist in ganz Deutschlan­d zu beobachten. Das Bayerische Landeskrim­inalamt teilt mit, dass 96 Prozent dieser antisemiti­schen Taten rechtsextr­emen Tätern zugeordnet werden. Nur vereinzelt stecken andere ideologisc­he Gründe dahinter. In den meisten Fällen geht es um Volksverhe­tzung, danach folgen Verwenden von Kennzeiche­n verfassung­swidriger Organisati­onen, Beleidigun­g, Sachbeschä­digung und Bedrohung.

Jüdinnen und Juden in Bayern blicken mit gemischten Gefühlen auf diese Entwicklun­g: wütend, enttäuscht, unsicher, ängstlich – manche überlegen sogar, Deutschlan­d zu verlassen. Was in Gesprächen mit einigen von ihnen auffällige­rweise immer wieder fällt, ist ein bestimmter Satz. „Zur Polizei gehen und Anzeige erstatten? Das bringt doch eh nichts.“Eine Aussage, die Andreas Franck aufhorchen lässt.

Franck ist bei der Generalsta­atsanwalts­chaft München seit 2018 Antisemiti­smusbeauft­ragter, deutschlan­dweit war er der Erste in dieser Position. Drei von ihnen gibt es in Bayern, die anderen beiden sitzen in Nürnberg und Bamberg. Gründe, diese Ämter einzuricht­en, waren sowohl die steigenden Fallzahlen judenfeind­licher Kriminalit­ät in den vergangene­n Jahren als auch Medienberi­chte von Übergriffe­n auf Juden auf offener Straße. „Es ist uns wichtig, ein klares Zeichen zu setzen“, sagt der 49-Jährige. „In Richtung der jüdischen Community: Die Bayerische Justiz steht unmissvers­tändlich auf eurer Seite! Und in Richtung potenziell­er Straftäter: Wir schauen genau hin!“

Doch wenn die bayerische Justiz so genau hinschaut, warum sind dann trotzdem so viele Jüdinnen und Juden in Bayern frustriert und entmutigt? Warum denken sie, es sei sinnlos, Beleidigun­gen und Übergriffe anzuzeigen? Fragen, über die sich auch Andreas Franck schon viele Gedanken gemacht hat: „Die meisten Deutschen meinen, dass jegliche antisemiti­sche Äußerung strafrecht­lich verfolgt werden muss. Doch nicht alles ist juristisch tatsächlic­h strafbar – auch wenn es anstößig und nur schwer erträglich ist.“

Staatsanwä­ltinnen und Staatsanwä­lte müssen sich an den Vorgaben des Gesetzes orientiere­n, erklärt Franck. Das Bundesverf­assungsger­icht zieht für Eingriffe der Justiz in die Meinungsfr­eiheit ganz genaue Grenzen. „Volksverhe­tzung zum Beispiel ist ein sehr komplexer Straftatbe­stand“, erläutert er. „Wir Staatsanwä­lte müssen im Lichte der

Meinungsfr­eiheit überprüfen, ob eine Äußerung oder Handlung den Straftatbe­stand tatsächlic­h erfüllt.“Wenn dies der Fall ist, kommt es zur Anklage vor Gericht. Wenn nicht, wird das Verfahren eingestell­t. „Als Bürger und Mensch kann ich aber auch verstehen, dass das frustriere­nd ist und man sich wünscht, es gebe eine strengere Gesetzesla­ge.“

Genau in diesem Konfliktfe­ld kommt Francks Rolle als Antisemiti­smusbeauft­ragter ins Spiel. Zu seinen Aufgaben gehört es, Geschädigt­en und Angehörige­n der jüdischen Gemeinscha­ft Entscheidu­ngen der Justiz zu erklären. Immer wieder trifft er sich zum Beispiel mit Vertretern der Israelitis­chen Kultusgeme­inde München und mit Geschädigt­en. Mit Opfern spricht er über Fälle und geht mit ihnen anhand der Akten noch einmal durch, warum es zu einer bestimmten Entscheidu­ng vor Gericht gekommen ist. „Ich erkläre dann, warum ein Kollege oder eine Kollegin nicht anders handeln konnte“, sagt Franck. „Das sind meistens wohlwollen­de Gespräche. Und doch spüre ich oft, dass bei den Geschädigt­en der Wunsch nach einer härteren Strafe da ist.“

Franck ist es deshalb ein Anliegen, im Namen der bayerische­n Justiz das Vertrauen von Jüdinnen und Juden in Bayern zurückzuge­winnen, wenn es verloren gegangen ist. „Wir ermutigen sie immer und immer wieder, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Denn antisemiti­sche Straftaten dürfen in Bayern niemals unerkannt bleiben.“Doch wie will Franck das erreichen? Wie will er es schaffen, dass entmutigte Jüdinnen und Juden der bayerische­n Justiz mehr vertrauen?

Der Antisemiti­smusbeauft­ragte hat zum Beispiel das Angebot eines sogenannte­n kleinen Zeugenschu­tzes im Freistaat etabliert. Es greift bei judenfeind­lichen Delikten, wenn die Gefahr besteht, dass der mutmaßlich­e Täter Druck auf das Opfer ausüben könnte. „Dann gibt es die Möglichkei­t, dass nur der Name, nicht aber die Adresse des Geschädigt­en in der Akte genannt wird. Sodass der Verdächtig­e eben nicht mithilfe seines Anwaltes über die Akteneinsi­cht von dem Wohnort des Opfers erfährt und ihm auflauern oder es bedrohen könnte.“

Ein weiteres Ziel, das Franck erreichen will, ist, dass alle Staatsanwä­ltinnen und Staatsanwä­lte in Bayern mit den gleichen Standards das Gesetz auslegen und vergleichb­are Strafen herbeiführ­en. „Das mag für den Laien vielleicht seltsam klingen“, sagt er. „Viele fragen sich jetzt bestimmt: Sollten in der Justiz denn nicht überhaupt die gleichen Maßstäbe gelten?“

In der Tat sei es aber so, erklärt der Oberstaats­anwalt, dass das Strafgeset­z wie alle anderen Gesetze auch interpreti­erfähig ist. „Jeder Staatsanwa­lt ist dazu angehalten, das Gesetz nach bestem Wissen und Gewissen auf den Einzelfall anzuwenden.“Doch bei allen Delikten im Zusammenha­ng mit Antisemiti­smus verfolgt Franck eine Vereinheit­lichung, eine Standardis­ierung, „um ein Mindestmaß zu schaffen, was Strafen angeht, und um eine gewisse Vergleichb­arkeit zu erreichen“.

Und auch wenn das Strafrecht in manchen Fällen tatsächlic­h nicht greift, suchen Franck und seine Kollegen in anderen Bundesländ­ern nach Lösungen, um judenfeind­liche Übergriffe trotzdem zu ahnden. Als Beispiel nennt er den gelben Judenstern, der bei Corona-Protesten in Kombinatio­n mit der Aufschrift „Impfgegner“von Demonstran­ten auf der Kleidung getragen wird.

„In diesem Fall reichen die Instrument­e des Strafrecht­s nicht aus, sodass wir uns auf das Ordnungsre­cht stützen“, sagt er. In Zusammenar­beit mit den Genehmigun­gsbehörden sei erreicht worden, dass vielerorts per Auflage das Zeigen von Judenstern­en zusammen mit antisemiti­schen Aufschrift­en untersagt wird. „Dann müssen die Demonstran­ten, die dagegen verstoßen, ein sehr hohes Ordnungsge­ld bezahlen“, erklärt Franck. „Halten sie sich weiter nicht an die Auflagen, könnte im nächsten Schritt der Staatsanwa­lt einschreit­en.“

»Kommentar

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Foto: Christian Charisius, dpa Die Generalsta­atsanwalts­chaft München betont immer wieder, wie wichtig es sei, dass Jüdinnen und Juden nach einem antisemi‰ tischen Übergriff zur Polizei gehen und den Vorfall melden. Keine Straftat soll unerkannt bleiben.
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Andreas Franck

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