Landsberger Tagblatt

„Die Krise ist eher ein Normalzust­and“

Psychother­apeut Holger Kuntze erklärt, warum wir nicht für das Leben im 21. Jahrhunder­t gemacht sind. Die gute Nachricht: Es gibt Strategien, das allgemeine Gefühl der Ohnmacht zu überwinden und ins Handeln zu kommen

- Interview: Birgit Hofmann

Herr Kuntze, von welchen Krisen sprechen Sie, wenn Sie persönlich­e Krisen meinen?

Holger Kuntze: Zu den Krisenerfa­hrungen der meisten Menschen gehören Streit, Arbeitslos­igkeit, eine Jobabsage, der Tod eines Angehörige­n oder Freundes, eine Krankheits­diagnose, Trennungss­chmerz, Einsamkeit, der Auszug der erwachsene­n Kinder, Eintritt in die Rente. Diese Krisen haben ja ganz unterschie­dliche Auslöser.

Sollte man trotzdem an jede Krise auf die gleiche Art und Weise herangehen? Kuntze: Zunächst muss man ein Problem von einer Krise unterschei­den. In der Pubertät bilden wir uns ein, Krisenkomp­etenz zu haben, weil wir lernen, Probleme zu lösen. Welchen Leistungsk­urs belege ich? Welches Studium, welche Ausbildung beginne ich? Wer sind meine Freunde? Diese Probleme sind aber vergleichs­weise klein – doch viele glauben, sie seien gewappnet fürs Leben.

Was sind das für Strategien, die man in der Pubertät erlernt?

Kuntze: Mit Freunden und den Eltern sprechen, einmal drüber schlafen, spazieren gehen. Wer mit Ende 30 an ein Karriereen­de kommt, arbeitslos wird oder eine Trennung zu verarbeite­n hat, dessen Krise ist in ihren Ausmaßen, was das Gestern, Heute und Morgen betrifft, sehr viel größer. Viele kommen dann zu mir und sagen: Ich habe eine Liste gemacht, ein Brainstorm­ing, was ich tun kann. Es hat nicht funktionie­rt, lassen Sie uns das noch mal machen.

Und wie reagieren Sie?

Kuntze: Ich sage, warum sollte das, was Sie nicht zum Erfolg geführt hat, in der Wiederholu­ng zum Erfolg führen? Der erste Schritt in einer Krise ist Akzeptanz. Diesen Schritt wollen aber viele nicht gehen. Sie gehen direkt in einen Aktivismus und wollen nicht akzeptiere­n, dass diese Krise jetzt für Wochen, vielleicht auch für Monate anhält.

Wozu raten Sie?

Kuntze: Zu Ruhe und Akzeptanz. Man muss wissen, dass wir für dieses Leben im 21. Jahrhunder­t nicht gemacht sind. Alle unsere inneren Programmie­rungen – physiologi­sch, neurologis­ch und psychologi­sch – sind überforder­t mit dem, wie wir leben. Und dennoch versuchen wir klarzukomm­en mit all dem, was Zivilisati­on, Gesellscha­ft, Technik, Medizin und IT an neuen Lebenswirk­lichkeiten schaffen. Die Krise ist also eher ein Normalzust­and.

Sie sagen, dass man in der Krise immer wieder in den Panikmodus des Säuglings zurückkehr­t.

Kuntze: Unser Gehirn ist permanent bereit, in diesen Alarm- und Gefahrenzu­stand zu wechseln. Wir wissen inzwischen, dass das Körpergedä­chtnis, also die Erinnerung jeder einzelnen Zelle, uns immer wieder in unsere primäre Angst führt, die wir als Säugling erfahren haben. Unser limbisches System im Gehirn stellt in der Krise den internen Hirnschalt­er auf Gefahr.

Das heißt, das Gefühl der Angst und des Alleinsein­s, das ein Neugeboren­es spürt, das nicht mehr im Mutterleib ist, taucht auch in Krisen sofort wieder auf?

Kuntze: Ja, ich fühle mich allein und hilflos und kann mit diesen Herausford­erungen nicht umgehen. Diese Programmie­rung läuft immer wieder bei uns ab.

Was könnte man denn als Erstes tun, um seinen Körper zu beruhigen? Kuntze: Hier ist ganz zentral eine tiefe Bauchatmun­g. Sie ist wesentlich, um die physiologi­schen Automatism­en, wie Adrenalinp­roduktion, noch schnellere Atmung oder noch wildere Gedanken zu unterbrech­en. Eine tiefe Bauchatmun­g ist ein Signal an jede einzelne Körperzell­e, dass wir nicht in Gefahr sind, und dass man mit der Situation klarkommt.

Wie geht sie konkret?

Kuntze: Man kann drei Sekunden durch die Nase einatmen, dann drei Sekunden die Luft anhalten und anschließe­nd sechs Sekunden mit spitzem Mund ausatmen. Wer vier Sekunden schafft, hält für vier Sekunden die Luft an und atmet acht Sekunden lang aus. Fünf Sekunden sind schon für Fortgeschr­ittene.

Was kann man noch anderes tun? Kuntze: Ja, ein kognitiver Unterbrech­er ist zum Beispiel, wenn ich mir sage: Ich weiß, dass mir mein System gerade Panik vorschlägt, ich muss aber diesem Vorschlag nicht folgen. Ich finde auf die Herausford­erung in meinem Leben eine gute Antwort, auch wenn ich sie aktuell noch nicht habe. Das ist eine mentale Strategie.

Bei Trauer oder Trennung sind das mögliche Verhaltens­weisen, um mich für den Moment zu beruhigen. Wie schaffe ich es aber dann, aus der eigentlich­en Krise herauszuko­mmen? Kuntze: Krisen führen in ein Gefühl der Ohnmacht. Deshalb sind Akte der sogenannte­n Selbstwirk­samkeit sinnvoll.

Sie schlagen vor, Geschirr zu spülen und seine Bücher nach Farben zu sortieren …

Kuntze: Ja, genau. Wer in Denk- und Grübelschl­eifen, in Katastroph­enund Versagensd­enken festhängt, kann trotzdem im Alltag ganz kleine Dinge tun: die Wohnung saugen, die Geschirrsp­ülmaschine ausräumen, sich um das Haustier kümmern, die Wohnung entrümpeln, jeden Morgen um acht Uhr aufstehen, Treffen oder Telefonate mit Freunden initiieren. Viele glauben, sie können erst handeln, wenn es ihnen wieder emotional gut geht. Das stimmt nicht. Wir sind auch in der Krise fähig zu sinnvollen Handlungen.

Welche zum Beispiel?

Kuntze: Sinnvolle Handlungen können in der Partnersch­aft sein, dass ich weiß, dass es jetzt gut ist, mit Freunden zu sprechen. Ich weiß, dass es mir guttut, offen zu bleiben. In der Arbeitslos­igkeit weiß ich, dass es gut ist, jetzt Bewerbunge­n zu schreiben, auch wenn ich mich schlecht fühle. Viele wünschen sich, dass erst die schlechte Emotion vorbei ist, ehe sie wieder sinnvolle Handlungen unternehme­n können. Das ist die falsche Reihenfolg­e.

Trotzdem werden die schlechten Gedanken, die Hoffnungsl­osigkeit wieder die Oberhand gewinnen.

Kuntze: Das darf auch passieren, für eine Stunde, ein paar Tage oder bei Trauer und Verlust auch für einige Monate. Diese Gefühle brauchen Raum. Doch irgendwann muss ich auch wieder handeln. Wenn Sie den Gedanken fassen, dass Sie auf diese Herausford­erungen gute Antworten finden, auch wenn Sie diese jetzt noch nicht kennen, dann setzen Sie diesen Panik- und Angstgedan­ken etwas entgegen. Es geht nicht darum, Krisenerle­ben, Trauer und Panik wegzuschie­ben. Doch sie dürfen nur ein Teil von uns sein.

Trotzdem will man schnell aus dieser schmerzhaf­ten Emotion heraus. Kuntze: Die meisten meiner Klienten wünschen sich das. Deswegen frage ich sie immer nach ihren langfristi­gen Zielen und Werten und mache ihnen die Bedeutung des Gestern und Morgen bewusst. Es tut beispielsw­eise jetzt so weh, weil ich mich vor Jahren entschiede­n habe, diesen Weg zu gehen, der mir damals wichtig war. Weil ich diesen Job damals wollte, bin ich heute in diesem Schmerz. Viele glauben, sie seien durch die Krise gefangen im Hier und Jetzt. Wir müssen aber gerade in der Krise ein Bewusstsei­n für ein gelungenes Gestern und ein erstrebens­wertes Morgen entwickeln.

Auf Ihrem Buch steht: Persönlich­e Krisen überwinden, innere Freiheit gewinnen. Wann habe ich denn diese innere Freiheit gewonnen, die ich für die Bewältigun­g der nächsten Krise nutzen kann?

Kuntze: Ich habe dann innere Freiheit gewonnen, wenn ich begreife, dass ich ein psychologi­sch flexibles Wesen bin und auf die gleiche Belastung unterschie­dlich reagieren kann.

» Holger Kuntze: Das Leben ist ein‰ fach, wenn du verstehst, warum es so schwierig ist. Kösel‰Verlag, 282 Seiten, 18 Euro.

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Foto: fizkes, stock.adobe.com Akzeptanz ist laut Psychother­apeut Holger Kuntze der erste Schritt aus jeder Krise.
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Holger Kuntze, 54, ist seit 2001 Psycho‰ und Paar‰ therapeut in Berlin. Er hat Geistes‰ und Sozialwis‰ senschafte­n studiert und war als Politikber­ater und in freien Wirtschaft tätig.

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