Zwei Brüder, zwei neue Herzen
Die Zwillinge Kilian und Jamie leiden an einem Gendefekt: Jeder der beiden wartet auf ein Spenderorgan. Im Februar erlebt die Familie eine Sensation, die es so noch nie gab
Leipzig/Calbe Kilian und Jamie sind schmächtig und schüchtern. Die eineiigen Zwillinge weichen ihren Eltern bei der Nachkontrolle im Leipziger Herzzentrum nicht von der Seite. Eben haben die 13-Jährigen ihren neuen Herzschlag gehört. Vor zwei Monaten hat ihr neues Leben begonnen: Innerhalb von drei Tagen erhielten die Brüder jeweils ein Spenderherz. Eine Sensation, wie ihre Ärzte versichern. „Der 21. und 24. Februar, als beide ihr neues Herz bekommen haben, ist wie ein zweiter Geburtstag“, sagt der Vater der Jungs, Roy Schimmel aus Calbe/ Saale in Sachsen-Anhalt. Bisher hätten beide immer gemeinsam am 19. September gefeiert, jetzt habe jeder seine eigene Feier, betont der 40-Jährige.
„Vor vier Jahre kam Kilian vom Fußballtraining und sagte, dass ihm das Herz beim Atmen wehtut“, schildert Mutter Mareen. Erst glauben die Ärzte an eine verschleppte Erkältung, stellen dann aber eine Herzinsuffizienz fest – der Muskel schafft es nicht mehr, ausreichend Blut durch den Körper zu pumpen. 2019 bekommt der fünf Minuten jüngere Bruder die gleichen Symptome. Im Sommer 2020 wird bei beiden ein Gendefekt festgestellt: DMC, dilatative Kardiomyopathie. Dabei sorgen eine Veränderung des
und die Durchsetzung mit Narbengewebe zu einer Erweiterung der Herzhöhlen. Die Folge ist eine Verminderung der Leistungsfähigkeit des Herzens. Etwa jedes 100. Kind kommt mit einem angeborenen Herzfehler auf die Welt, sagt der Kinderherzchirurg des Herzzentrums Leipzig, Marcel Vollroth. „Mehr als die Hälfte davon müsste behandelt werden, sonst besteht die Gefahr des plötzlichen Herztodes.“Jedes Neugeborene sollte daher ein Herzultraschall bekommen, um schwere Herzerkrankungen frühzeitig zu erkennen, fordert er. Da fehle es aber derzeit unter anderem an ausreichend Fachpersonal.
Beide Jungs kommen auf die Liste für ein Spenderherz. Dabei ist ihrer Mutter klar, dass es bereits ein Sechser im Lotto wäre, nur ein passendes Herz zu finden. Und die Familie braucht doppeltes Glück.
Nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) haben im Vorjahr lediglich 21 Kinder und Jugendliche bis 15 Jahren ein neues Herz bekommen. 2019 waren es noch 44 gewesen. 2020 hatten in Deutschland 913 Menschen nach dem Tod ein oder mehrere Organe gespendet, 3016 Organe wurden übertragen. Ende des Jahres standen aber noch immer 9200 Patienten auf der Warteliste für eine Transplantation. „Das Angebot an Spenderorganen wird leider immer geringer“, sagt der Leiter des Transplantations- und Kunstherzprogramms am Leipziger Herzzentrums, Diyar Saeed. „Daher ist es ja geradezu sensationell und meines Wissens auch weltweit einmalig, dass die Zwillinge innerhalb von drei Tagen jeweils ein neues Herz bekommen haben“, betont der Mann, der sie operiert hat.
„Ich habe gehofft, dass sie mich anrufen, weil ich Angst hatte, dass ich das nicht schaffe“, sagt der 13-jährige Kilian. In der Zeit habe er auch große Sorgen um seinen Bruder gehabt. Jamie ist schon immer kleiner und schmächtiger, ihm geht es zum Jahreswechsel auch noch schlechter als Kilian. Am 21. Februar kommt der erlösende Anruf, dass ein passendes Herz gefunden wurde, wie die Mutter sich erinnert. Aber für Kilian, nicht für Jamie. „Mir wurde ganz übel, und ich hatte Angst, dass die Operation nicht gut verläuft“, sagt Kilian. Die Gefühle der Eltern fahren Achterbahn: Freude für Kilian, TodesHerzmuskels ängste um Jamie. Doch drei Tage, nachdem in Kilians Brust ein neues Herz zu schlagen begann, teilt die Stiftung Eurotransplant Jamie ein Herz zu. Gegen Mitternacht beginnt die rund fünfstündige Operation. Alles verläuft nach Plan, die Zwillinge können sich nach einigen Tagen sogar gemeinsam auf einem Zimmer erholen.
Am meisten freut Kilian sich darüber, dass er jetzt wieder machen kann, worauf er Lust hat: „Fahrrad fahren und Fußball spielen.“Er habe sich auch Gedanken gemacht, woher das Spenderherz gekommen ist. „Das Kind ist ja verstorben ...“, dann versagt seine Stimme. Mit seiner Mutter hatte er zuvor schon darüber gesprochen. „Ich glaube, das hat ihn im Hinterkopf etwas belastet“, sagt diese. Sie wollen bald einen anonymen Brief schreiben, den das Herzzentrum dann an die Hinterbliebenen des Spenders weitergeben soll. Mareen Schimmel hat größten Respekt vor der Entscheidung der Eltern, das Herz ihres Kindes zu spenden. „Ich muss ehrlich zugeben, ich hätte das nicht gekonnt.“Nun hat sie sich aber Informationen über den Organspendeausweis besorgt und will, wenn die Familie alles verarbeitet hat, darüber entscheiden.
Freude für Kilian, Todesangst um Jamie