Landsberger Tagblatt

Zwei Brüder, zwei neue Herzen

Die Zwillinge Kilian und Jamie leiden an einem Gendefekt: Jeder der beiden wartet auf ein Spenderorg­an. Im Februar erlebt die Familie eine Sensation, die es so noch nie gab

- André Jahnke, dpa

Leipzig/Calbe Kilian und Jamie sind schmächtig und schüchtern. Die eineiigen Zwillinge weichen ihren Eltern bei der Nachkontro­lle im Leipziger Herzzentru­m nicht von der Seite. Eben haben die 13-Jährigen ihren neuen Herzschlag gehört. Vor zwei Monaten hat ihr neues Leben begonnen: Innerhalb von drei Tagen erhielten die Brüder jeweils ein Spenderher­z. Eine Sensation, wie ihre Ärzte versichern. „Der 21. und 24. Februar, als beide ihr neues Herz bekommen haben, ist wie ein zweiter Geburtstag“, sagt der Vater der Jungs, Roy Schimmel aus Calbe/ Saale in Sachsen-Anhalt. Bisher hätten beide immer gemeinsam am 19. September gefeiert, jetzt habe jeder seine eigene Feier, betont der 40-Jährige.

„Vor vier Jahre kam Kilian vom Fußballtra­ining und sagte, dass ihm das Herz beim Atmen wehtut“, schildert Mutter Mareen. Erst glauben die Ärzte an eine verschlepp­te Erkältung, stellen dann aber eine Herzinsuff­izienz fest – der Muskel schafft es nicht mehr, ausreichen­d Blut durch den Körper zu pumpen. 2019 bekommt der fünf Minuten jüngere Bruder die gleichen Symptome. Im Sommer 2020 wird bei beiden ein Gendefekt festgestel­lt: DMC, dilatative Kardiomyop­athie. Dabei sorgen eine Veränderun­g des

und die Durchsetzu­ng mit Narbengewe­be zu einer Erweiterun­g der Herzhöhlen. Die Folge ist eine Verminderu­ng der Leistungsf­ähigkeit des Herzens. Etwa jedes 100. Kind kommt mit einem angeborene­n Herzfehler auf die Welt, sagt der Kinderherz­chirurg des Herzzentru­ms Leipzig, Marcel Vollroth. „Mehr als die Hälfte davon müsste behandelt werden, sonst besteht die Gefahr des plötzliche­n Herztodes.“Jedes Neugeboren­e sollte daher ein Herzultras­chall bekommen, um schwere Herzerkran­kungen frühzeitig zu erkennen, fordert er. Da fehle es aber derzeit unter anderem an ausreichen­d Fachperson­al.

Beide Jungs kommen auf die Liste für ein Spenderher­z. Dabei ist ihrer Mutter klar, dass es bereits ein Sechser im Lotto wäre, nur ein passendes Herz zu finden. Und die Familie braucht doppeltes Glück.

Nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtrans­plantation (DSO) haben im Vorjahr lediglich 21 Kinder und Jugendlich­e bis 15 Jahren ein neues Herz bekommen. 2019 waren es noch 44 gewesen. 2020 hatten in Deutschlan­d 913 Menschen nach dem Tod ein oder mehrere Organe gespendet, 3016 Organe wurden übertragen. Ende des Jahres standen aber noch immer 9200 Patienten auf der Warteliste für eine Transplant­ation. „Das Angebot an Spenderorg­anen wird leider immer geringer“, sagt der Leiter des Transplant­ations- und Kunstherzp­rogramms am Leipziger Herzzentru­ms, Diyar Saeed. „Daher ist es ja geradezu sensatione­ll und meines Wissens auch weltweit einmalig, dass die Zwillinge innerhalb von drei Tagen jeweils ein neues Herz bekommen haben“, betont der Mann, der sie operiert hat.

„Ich habe gehofft, dass sie mich anrufen, weil ich Angst hatte, dass ich das nicht schaffe“, sagt der 13-jährige Kilian. In der Zeit habe er auch große Sorgen um seinen Bruder gehabt. Jamie ist schon immer kleiner und schmächtig­er, ihm geht es zum Jahreswech­sel auch noch schlechter als Kilian. Am 21. Februar kommt der erlösende Anruf, dass ein passendes Herz gefunden wurde, wie die Mutter sich erinnert. Aber für Kilian, nicht für Jamie. „Mir wurde ganz übel, und ich hatte Angst, dass die Operation nicht gut verläuft“, sagt Kilian. Die Gefühle der Eltern fahren Achterbahn: Freude für Kilian, TodesHerzm­uskels ängste um Jamie. Doch drei Tage, nachdem in Kilians Brust ein neues Herz zu schlagen begann, teilt die Stiftung Eurotransp­lant Jamie ein Herz zu. Gegen Mitternach­t beginnt die rund fünfstündi­ge Operation. Alles verläuft nach Plan, die Zwillinge können sich nach einigen Tagen sogar gemeinsam auf einem Zimmer erholen.

Am meisten freut Kilian sich darüber, dass er jetzt wieder machen kann, worauf er Lust hat: „Fahrrad fahren und Fußball spielen.“Er habe sich auch Gedanken gemacht, woher das Spenderher­z gekommen ist. „Das Kind ist ja verstorben ...“, dann versagt seine Stimme. Mit seiner Mutter hatte er zuvor schon darüber gesprochen. „Ich glaube, das hat ihn im Hinterkopf etwas belastet“, sagt diese. Sie wollen bald einen anonymen Brief schreiben, den das Herzzentru­m dann an die Hinterblie­benen des Spenders weitergebe­n soll. Mareen Schimmel hat größten Respekt vor der Entscheidu­ng der Eltern, das Herz ihres Kindes zu spenden. „Ich muss ehrlich zugeben, ich hätte das nicht gekonnt.“Nun hat sie sich aber Informatio­nen über den Organspend­eausweis besorgt und will, wenn die Familie alles verarbeite­t hat, darüber entscheide­n.

Freude für Kilian, Todesangst um Jamie

 ?? Foto: Jan Woitas, dpa ?? Endlich wieder Fußball: Jamie (rechts) und Kilian sind Fans des FC Bayern München. Nach der erfolgreic­hen Operation schenkten ihnen die Leipziger Ärzte Diyar Saeed (Mitte) und Marcel Vollroth Fanschals des Rekordmeis­ters.
Foto: Jan Woitas, dpa Endlich wieder Fußball: Jamie (rechts) und Kilian sind Fans des FC Bayern München. Nach der erfolgreic­hen Operation schenkten ihnen die Leipziger Ärzte Diyar Saeed (Mitte) und Marcel Vollroth Fanschals des Rekordmeis­ters.

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