Neues Projekt ergründet 500 Jahre jüdisches Leben in Bayern
Forschungsvorhaben an der Universität Augsburg zur Geschichte des Illertals angelaufen.
Im Illertal im Westen Bayerns siedelten seit dem 16. Jahrhundert viele Menschen jüdischen Glaubens. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 setzte einem halben Jahrtausend blühender jüdischer Kultur ein brutales Ende. Ein Forschungsprojekt an der Universität Augsburg ergründet und dokumentiert die Geschichte des Tals nun erstmals im Detail. Die Ergebnisse sollen auch für eine Gedenkstätte genutzt werden, die momentan im Bahnhof der Kleinstadt Fellheim im Illertal aufgebaut wird. Von dort wurden in der NS-Zeit zahlreiche Menschen jüdischen Glaubens aus dem Unterallgäu in die Vernichtungslager in Osteuropa deportiert.
Die Iller entspringt nahe Oberstdorf an der deutsch-österreichischen Grenze. Von dort schlängelt sie sich nach Norden, bis sie bei Ulm in die Donau mündet. Große Teile des Tals zählten seit dem Mittelalter zum Herrschaftsgebiet der Habsburger und kleinerer Adelsherrschaften. Sie sahen die Ansiedlung von Jüdinnen und Juden mit Wohlwollen, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen: „Viele jüdische Familien arbeiteten mit großem ökonomischen Erfolg in den damals wichtigen Industriezweigen wie dem Textilgewerbe“, erklärt Klaus Wolf, Professor für Deutsche Literatur und Sprache in Bayern an der Universität Augsburg. Seit Anfang des 16. Jahrhunderts gab es im Illertal daher eine blühende jüdische Alltagskultur. „Bis heute ist sie aber nur unzureichend wissenschaftlich
dokumentiert“, erklärt Wolf, der sich seit vielen Jahren mit der jüdischen Geschichte in Bayern beschäftigt.
Das im September gestartete Projekt soll das nun ändern. Mit rund 130.000 Euro fördert das Bayerisches Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst in den kommenden zwei Jahren das Forschungsvorhaben. „Das gibt uns die Möglichkeit, systematisch die In
formationen zum jüdischen Alltag in dieser Zeit zusammenzutragen, die noch weitgehend unbeachtet in den Archiven schlummern.“Religiöse Konflikte waren vor der Machtübernahme der Nazis im Illertal eine Seltenheit. Stattdessen lebten Menschen jüdischen und katholischen Glaubens weitgehend harmonisch miteinander. „Im Alltag spielte die Religionszugehörigkeit
keine große Rolle“, meint Wolf. „Beide Gruppen waren Einheimische, nur dass sie unterschiedliche Kirchen besuchten. Es kam beispielsweise vor, dass der Vorsitzende im Fußballverein Jude war und sein Stellvertreter Christ, oder auch umgekehrt. Oder dass ein Haus von einem jüdischen zu einem christlichen Besitzer wechselte, wie wir in den Kataster-Einträgen nachvollziehen können.“
Es gab daher auch keine streng nach Glauben getrennten Viertel. Anders sah es mit den Volksschulen aus. „Aufzeichnungen in den Archiven geben einen detaillierten Einblick in das Leben an jüdischen Volksschulen – angefangen vom unterrichteten Lehrstoff bis zum typischen Pausenbrot“, sagt Wolf. „Auch das ist ein Bereich, den wir in den kommenden zwei Jahren im Detail
untersuchen und dokumentieren wollen.“
Nach 1933 wurden aus Mitbürgerinnen und Mitbürgern zunächst Außenseiter und dann Verfolgte. In den Novemberprogromen 1938 kam es auch im Illertal zu gewalttätigen Übergriffen. Menschen jüdischen Glaubens wurden enteignet, ihr Besitz „arisiert“. Manchen gelang die Flucht ins Ausland. Andere wurden vom Bahnhof im Illertaler Städtchen Fellheim in die Vernichtungslager in Osteuropa deportiert. Die Münchner Historikerin Dr. Veronika Heilmannseder baut dort eine Gedenkstätte auf. Aus dieser Initiative erwuchs auch der Wunsch, die jüdische Geschichte der Region insgesamt wissenschaftlich aufzuarbeiten. So entstand die Idee zum Projekt „Jüdisches Illertal“, das vom Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst gefördert wird. Wolf wird zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen Dr. Ingvild Richardsen und Monika Mendat die wichtigsten Ergebnisse in einem Buch zusammentragen, das 2025 veröffentlicht werden soll. Auch die Gedenkstätte Bahnhof Fellheim soll davon profitieren. „Wir planen, die wichtigsten Dokumente – Fotos oder auch Schriftstücke – in digitaler Form zugänglich zu machen, sodass sie in der Gedenkstätte zum Beispiel durch Fotografieren eines QR-Codes auf dem eigenen Smartphone abgerufen werden können“, erklärt der Wissenschaftler. In Orten wie Altenstadt an der Iller sind viele der ursprünglich von Jüdinnen und Juden erbauten Häuser bis heute erhalten geblieben. Auch die Mehrzahl der Synagogen hat die Nazizeit überstanden. Die meisten von ihnen wurden zu Kulturstätten für Lesungen und Konzerte umgewidmet. Als Gotteshäuser haben sie dagegen ausgedient: Im gesamten Illertal wohnen bis heute so gut wie keine Menschen jüdischen Glaubens mehr.