Landsberger Tagblatt

„Orbán schadet Ungarn und lähmt die EU“

Katarina Barley, die Spitzenkan­didatin der SPD für die Europawahl, würde dem ungarische­n Regierungs­chef gerne das Stimmrecht entziehen. Andernfall­s, fürchtet sie, wird er noch zum Vorbild für andere Mitgliedsl­änder.

- Interview: Stefan Küpper

Spitzenkan­didatinnen dominieren den Europawahl­kampf: Da sind Sie, Marie-Agnes StrackZimm­ermann (FDP), Carola Rackete (Linke) und Terry Reintke (Grüne). Was bedeutet das?

Katarina Barley: Das zeigt, dass Frauen mittlerwei­le die Hälfte der Macht beanspruch­en. Mindestens. Aber es muss nicht immer bei 50 Prozent Schluss sein, auch wenn manche dies denken.

Verändert die hohe Frauenquot­e den Wahlkampf?

Barley: Es gibt natürlich faire und unangenehm­e Personen beiderlei Geschlecht­s. Aber mit den Frauen, mit denen ich zu tun haben werde, geht es – soweit ich sie persönlich kenne – gut.

EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen (CDU) strebt eine zweite Amtszeit an, möchte aber nicht für das EU-Parlament kandidiere­n. Wie finden Sie das?

Barley: Das war vorhersehb­ar. So muss sie sich keinem Wahlkampf stellen. Die Rückmeldun­gen dazu sind oft negativ, weil sie schon vergangene­s Mal ins Amt kam, ohne zur Wahl gestanden zu haben. In Brüssel wird total unterschät­zt, wie viele Menschen sich noch heute darüber aufregen, dass Frau von der Leyen Kommission­spräsident­in geworden ist, ohne im Wahlkampf angetreten zu sein.

Die EU hat sich im Grundsatz auf ein Asylpaket geeinigt. Wann dürfen die Bürgerinne­n und Bürger mit einem spürbaren Rückgang der Flüchtling­szahlen rechnen?

Barley: Endgültig beschlosse­n ist das Paket noch nicht, an den letzten Einzelheit­en wird gefeilt. Aber es wird wohl zum Ende dieser Legislatur­periode in Kraft treten und dann muss es umgesetzt werden. Manches kann zügiger angegangen werden: etwa die Registrier­ung der Flüchtling­e, deren Identifizi­erung, die Gesundheit­s- und Sicherheit­schecks. Anderes wird länger dauern. Bei den geplanten Grenzverfa­hren muss man schauen, wo man sie durchführt. Der Sinn dieser Reform ist schließlic­h, viel schneller zu wissen, wer bleiben kann und wer nicht, und so die Zahlen zu senken. Ich hoffe daher, dass die EU-Mitgliedss­taaten ihrer Verantwort­ung gerecht werden und ihren Teil der Asylberech­tigten aufnehmen.

Noch ist aus der Einigung kein Gesetz geworden. Wie zuversicht­lich sind Sie, dass das noch vor den Europawahl­en gelingt?

Barley: Wenn die Einigung zustande kommt, wird kurz vor den Wahlen im Juni daraus ein Gesetz. Die Effekte setzen daher sehr wahrschein­lich erst danach ein.

Verstehen Sie, warum Bürger manchmal an der EU verzweifel­n? Die Verhandlun­gen über das Paket dauern acht Jahre an.

Barley: Das stimmt. Aber das Problem dabei ist nicht die Europäisch­e Union, das sind die Mitgliedss­taaten. Die Ankunftsst­aaten halten sich oft nicht an die Regeln, sie registrier­en und identifizi­eren Asylsuchen­de nicht, sondern winken die Menschen einfach durch. Die anderen Mitgliedss­taaten nehmen sie nicht auf. Im Grunde hält sich im Moment keiner dran. Die Kommission hätte natürlich früher einen Vorschlag vorlegen können, nur hat der Europäisch­e Rat vorher auch keine Einigkeit hinbekomme­n. Horst Seehofer hatte das damals versproche­n, aber nicht geschafft. Nancy Faeser ist es nun endlich gelungen.

Viktor Orbán hat sich gefügt, als es am Donnerstag um die Ukraine-Hilfen ging – aber im Dezember hat er die EU noch erpresst und zehn Milliarden Euro bekommen, die wegen Rechtsstaa­tsverstöße­n in Ungarn von der EU zunächst zurückgeha­lten wurden. Hat von der Leyen sich da über den Tisch ziehen lassen?

Barley: Frau von der Leyen hat die Entscheidu­ng in der Hand, ob Ungarn die Voraussetz­ungen erfüllt hat, um die Gelder freizugebe­n. Sie hat sich dazu entschiede­n, das zu tun. Aus meiner Sicht war das falsch. Es ging vor allen Dingen um die Justizrefo­rm in Ungarn. Gelder freizugebe­n, ohne dass Orbán beweist, dass die Gerichte mehr Unabhängig­keit haben, ist blauäugig. Und für Blauäugigk­eit gibt es schon lange keinen Raum mehr.

Sollte die EU Ungarn das Stimmrecht entziehen, damit Europa besser geführt werden kann?

Barley: Ja. Ich will, dass ein Regierungs­chef, der in seinem Heimatland die Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit fast bis zur Unkenntlic­hkeit abgebaut hat, der sich die Taschen mit europäisch­em und ungarische­m Geld vollmacht, der EU-Entscheidu­ngen blockiert, im Interesse seines Landes damit nicht mehr weitermach­en kann. Er verstößt gegen die Europäisch­en Verträge, schadet Ungarn und lähmt immer wieder die EU.

Kommen wir zur SPD. Bei der Europawahl 2019 haben Sie als Spitzenkan­didatin 15,8 Prozent geholt, das das bisher schlechtes­te Ergebnis ihrer Partei bei einer bundesweit­en Wahl. Wenn Sie diese 15,8 Prozent im Juni wieder erreichten, wäre das ein Erfolg?

Barley: Ich möchte für die SPD natürlich gerne mehr als das erreichen. Und das hat die SPD auch verdient.

Von der Bundesregi­erung – auch wenn es für die SPD im Deutschlan­dtrend gerade von 14 auf 16

Prozent ging – bekommen Sie nicht so richtig Rückenwind. Barley: Das ist ein Anfang.

Zwei Prozent nennen Sie Rückenwind? Und der Kanzler, gibt der ihnen Rückenwind?

Barley: Unser Kanzler, Olaf Scholz, ist eine sehr starke Führungsfi­gur in Europa. Das haben wir beim EU-Gipfel vergangene Woche wieder gesehen. Er hat den Autokraten Viktor Orbán endlich in die Schranken gewiesen.

Was müsste die Ampel besser machen, damit Sie wirklich mehr Rückenwind bekommen?

Barley: Die müssten einfach mal aufhören, sich öffentlich gegen das Schienbein zu treten. Und damit meine ich dezidiert nicht die SPD und nicht Olaf Scholz. Ich verstehe das Agieren der FDP nicht, auch nicht in Europa. Derzeit blockieren sie mindestens vier wichtige Vorhaben – und das immer in letzter Sekunde. Das ist nicht europäisch gedacht und gehandelt.

Bleiben wir bei der SPD. Im Gegensatz zum Kanzler ist Verteidigu­ngsministe­r Boris Pistorius sehr beliebt. Zu Recht?

Barley: Zu Recht. Ich schätze ihn persönlich und fachlich sehr.

Kann er Kanzler?

Barley: Ich schätze sowohl Boris Pistorius als auch Olaf Scholz über alle Maßen. Sie machen großartige Arbeit, jeder in seiner Funktion.

Wäre Pistorius mit Blick auf die Bundestags­wahl 2025 der zugkräftig­ere SPD-Kanzlerkan­didat?

Barley: Sie werden nicht erwarten, dass ich darüber jetzt spekuliere.

Der Kampf gegen rechts steht im Vordergrun­d ihrer Kampagne. Wie stellt man die AfD?

Barley: Man muss sie enttarnen und zeigen, wer sie sind, was sie tun und was sie wollen. Das ist zum Beispiel durch die Recherchen von Correctiv – Stichwort Deportatio­n – gelungen. Die AfD schadet auch der arbeitende­n Mitte.

Nehmen Sie die Idee vom „Dexit“. Ernsthaft vorzuschla­gen, dass Deutschlan­d, das in der Mitte Europas liegt, in dem jeder fünfte Arbeitspla­tz von der EU abhängt, aus der EU austritt, ist wahnsinnig. So würde weggeworfe­n, was sich Generation­en hier aufgebaut haben. Mein Vater ist Brite. Wir waren zuletzt wieder auf der Insel. Wer sich die Verhältnis­se – Wirtschaft und Arbeitsplä­tze – da anschaut, sieht sofort, dass der Brexit die mit Abstand schlechtes­te Idee für Großbritan­nien war. Die Massendemo­nstratione­n gegen die AfD machen mir Hoffnung.

Gefahr von Extremiste­n droht auch in anderen EU-Ländern. Orbán ist das große Vorbild für Italiens Ministerpr­äsidentin Giorgia Meloni. Die verschärft inzwischen nicht nur den Ton gegenüber den Medien. Wie sehr sorgt Sie, was in Italien gerade passiert?

Barley: Giorgia Meloni hat zwei Gesichter: Auf europäisch­er Ebene ist sie kompromiss­fähig. Aber in Italien versucht sie, die Medien zu drangsalie­ren, und wie Orbán, die Justiz zu stutzen. Was in Italien allerdings gewagt ist, denn die italienisc­he Justiz ist knallhart und – im jahrzehnte­langen Kampf gegen die Mafia – sehr selbstbewu­sst. Meloni will das Wahlrecht zu ihren Gunsten ändern. Sollte sie das umsetzen und damit europäisch­e Werte verletzen, ist es Aufgabe der Kommission als Hüterin der Verträge, diese zu verteidige­n.

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Nietfeld, dpa Foto: Kay Katarina Barley, Vizepräsid­entin des Europäisch­en Parlaments.

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