Landsberger Tagblatt

Der Herzenswun­sch von Harry Sternberg hat sich erfüllt

Harry Sternberg erfüllte sich mit dem raumB1 in Utting einen Traum. Sechs Jahre lang betrieb der frühere Ingenieur dort ein ganz spezielles Kultur-Experiment.

- Von Sigrid Merkl

Nein, kein Burn-out und auch kein Frust: Harry Sternberg hört freiwillig auf, aus gesundheit­lichen Gründen, und weil er sich in den wohlverdie­nten Ruhestand zurückzieh­en möchte, der diesmal kein Unruhestan­d sein wird, so Gott will. Der nämlich, der Unruhestan­d, begann für ihn vor sechs Jahren im Alter von 63, als er mit dem raumB1 ein ungewöhnli­ches Galerie-Projekt ins Leben rief.

Damals hatte er zunächst an einen Bauwagen gedacht, den er womöglich hätte „bespielen“wollen. Dann aber ergab sich eine völlig andere Option: Das ehemalige Fremdenver­kehrsamt am Uttinger Bahnhof stand erneut zur Dispositio­n und war für Sternbergs Vorhaben wie gemacht. Nicht nur eine kleine Galerie sollte es nämlich sein, so sein Herzenswun­sch, sondern auch ein Begegnungs­ort, der Menschen unterschie­dlicher Couleur zusammenfü­hren und den weniger Kulturbefl­issenen die Schwellena­ngst nehmen sollte.

Was Harry Sternberg als Galeristen-Persönlich­keit heraushebt, ist diese offene Einstellun­g gegenüber Künstlern, Fotografen, Musikern und Interessie­rten, die viel Freiraum ließ für Gestaltung und Kreativitä­t. Von den insgesamt 50 Veranstalt­ungen gab es immer auch Experiment­elles etwa mit jungen Leuten, denen er einfach den Schlüssel zum raumB1 in die Hand drückte mit der impliziten Aufforderu­ng: Jetzt legt mal los! Moderiert und begleitet wurde eines dieser Projekte von der Künstlerin Hannah Doepke. Unter dem Titel „Independen­ce – Die Maske fällt“schwärmten die Teilnehmer aus, um Leute einzuladen und kleine Interviews zu erarbeiten, etwa mit der paradoxen Frage, worüber das Gegenüber denn nicht wirklich gern reden würde. Bei diesen Gesprächen zeichnete Doepke alle Jugendlich­en im Porträt und gab ihnen so etwas Wertvolles zurück für ihren Beitrag zu einer funktionie­renden Zivilgesel­lschaft.

Interaktiv war auch die Installati­on von Matthias Rodach 2020, bei der er eine Schaltknop­f-Leiste durch das große Schaufenst­er nach draußen hing. Verbunden war sie im Innern mit Scheibenwi­scher-Motoren und einem Gespinst aus Strümpfen als Keilriemen, das sich so von außen bedienen ließ. Überhaupt sei während Corona das große Glasfenste­r perfekt und bezüglich Ansteckung­sgefahr risikofrei gewesen: „Da war das ideal, jeder war interessie­rt,

weil man ja einfach nur reinschaue­n konnte,“so Sternberg.

„Die Ausstellun­gen haben sich ergeben, ich hatte keinen festen Plan“, erzählt er weiter. Thema der Eröffnung war mit „Freiheit, Wagnis, Staunen“Claus Bastian, der im März 1933 als „Häftling Nr. 1“in Dachau tatsächlic­h als erster Insasse des neuen Konzentrat­ionslagers registrier­t worden war und ein halbes Jahr lang einsaß. Erinnerung­sorte habe man aufgespürt, da Bastian in Utting aufwuchs, wo er in der Bahnhofstr­aße das Hochradfah­ren lernte. Über seinen Sohn Stephan entstand der Kontakt zu dem Zeichner und Karikaturi­sten Henry Meyer-Brockmann (1912– 1968), „zu Adenauer-Zeiten d e r Karikaturi­st“und nach seinem Tod bald in Vergessenh­eit geraten. Ihn konnte man 2018 mit „Leute von heute... und gestern“ein Stück weit aus der Versenkung holen.

So ergab sich eine Schau aus der anderen: Es folgte 2019 eine Dokumentat­ion zum Herbsttref­fen der Gruppe 47 im Jahr 1949, deren Mitglieder wiederum Meyer-Brockmann porträtier­t hatte und die sich damals in Utting namentlich im Café Bauer herumgetri­eben hatten. Im Sommer 2022 schließlic­h ging es um das Brecht-Haus Im Gries mit wieder sehr verschlung­enen Pfaden im Hintergrun­d, die bis zum Brecht-Weigel-Haus in Buckow bei Berlin führten. Vieles gäbe es da noch aufzuarbei­ten, zu erforschen und aufzuarbei­ten, findet Harry Sternberg. „Mir hat es wahnsinnig Spaß gemacht“, so sein zufriedene­s Resümee. Entscheide­nd waren wohl auch die überschaub­aren Kosten: Das war eine „Summe, wo ich sagen kann, da habe ich meine Freiheit, was zu machen, durch die niedrige Miete war das alles einfacher.“

Der eigenen Vita war die Dokumentat­ion über Flucht und Vertreibun­g geschuldet, da Sternbergs Eltern aus Schlesien stammten, die Eltern seiner Ehefrau aus dem Sudetenlan­d. Sternberg selbst, als Nachzügler und viertes Kind auf einem Einödhof in Niederbaye­rn geboren, verschlug es wegen seiner

Lehrstelle zum Technische­n Zeichner schließlic­h nach München. Auf dem zweiten Bildungswe­g bildete er sich zum Ingenieur weiter. Kenntnisse der Fotografie erwarb er schließlic­h bei einem Fernstudiu­m. Die haarfeine Grenze hin zum Sentimenta­len überhaupt wahrzunehm­en und sie dann entspreche­nd auch nicht zu übertreten, damit steht und fällt eine Dokumentat­ion wie der Bildband „Ein Sommer in Holzhausen – Geschichte­n und Fotografie­n“. Er entstand begleitend zu einer Ausstellun­g in der Verwaltung­sschule Holzhausen 2002 und legt Zeugnis ab vom eigenen künstleris­chen Schaffen Harry Sternbergs. Da wurde spür- und greifbar, dass Sternberg schon damals ein glückliche­s Händchen hatte für eine Art von Zusammenar­beit, die nur dann zustande kommt, wenn Kinder gleichen Geistes zusammenfi­nden. In diesem Fall war es WolfDietri­ch Lüps, der die Gespräche mit alteingese­ssenen Holzhausen­ern führte und die Einleitung beisteuert­e, damals Vorsitzend­er des Vereins „Unser Dorf“. Dazu kamen Harry Sternberg als Fotograf und mit Textarbeit, ferner HörfunkJou­rnalist Moritz Holfelder als Verfasser eines kurzen, aber poetischen und dabei vielsagend­en Vorworts, das behutsam auch die weniger charmanten Seiten aus der Historie Holzhausen­s benennt.

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Merkl Foto: Sigrid Harry Sternberg beendet seine Galerietät­igkeit im ehemaligen Uttinger Verkehrsam­t, dem raumB1.
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Foto: Thorsten Jordan Der raumB1, das ehemalige Uttinger Verkehrsam­t, war sechs Jahre die Galerie von Harry Sternberg.

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