Landsberger Tagblatt

20 Jahre Streit – wegen 14 Minuten

Weniger Verspätung­en, mehr Klimaschut­z: Mit diesem Verspreche­n will die Deutsche Bahn eine neue ICE-Strecke zwischen Augsburg und Ulm bauen. Nun fürchten Anwohner um ihre Häuser. Die Bahn versucht, sie in die Pläne einzubezie­hen. Aber der Widerstand bleib

- Von Stefan Foag

Eine Heizung hat Tanja Arndt nicht. Wenn sie warm duschen will, muss sie einen Holzofen anschüren. Die Wände sind dünn, es ist kalt. Doch Arndt sagt: „Das war ganz großes Glück mit diesem Haus.“Sie wohnt unweit von Augsburg, im Neusässer Stadtteil Westheim. Zwei Stockwerke, vier Zimmer, kleiner Garten. Zehn Jahre lang hat sie gesucht, erzählt Arndt. Bis sie das Haus mit bezahlbare­r Miete bekommen hat. Wie lange sie noch bleiben kann, weiß sie nicht. „Wo soll ich hin?“, fragt sie. „Wenn die mir das jetzt wieder wegnehmen, wo soll ich hin?“Tanja Arndt wohnt neben dem Bahnhof. Und wegen 14 Minuten muss sie vielleicht ihr Zuhause verlassen.

14 Minuten – so viel schneller sollen eines Tages Fahrgäste von Augsburg nach Ulm kommen. Dieses Ziel gehört zum „Deutschlan­dtakt“– ein Fahrplan, nach dem Züge zwischen Großstädte­n öfter, schneller und pünktliche­r fahren sollen. Dafür will die Deutsche Bahn eine neue ICE-Strecke bauen. Seit sechs Jahren arbeitet ein Planungste­am daran und erwägt vier mögliche Streckenve­rläufe. Zwei sind weitgehend neben der Autobahn, die zwei anderen in Teilen neben den bestehende­n Gleisen. Letztere führen an Tanja Arndts Haus vorbei.

Stolz präsentier­t Arndt die Bilder, die sie gemalt hat. Unter der Dachschräg­e im Schlafzimm­er lagert ein Dutzend davon. In ihrem Haus hat sie Platz für ihr Hobby. „Das ist für mich schon großer Luxus“, sagt sie. An die Züge, die hier alle paar Minuten vorbeifahr­en, hat sich Arndt gewöhnt. Durch die dünnen Wände sind sie im Haus gut zu hören. Zwischen ihrer Hofeinfahr­t und den Bahngleise­n ist nur eine schmale, nicht geteerte Straße.

Wo genau die zusätzlich­en Gleise gebaut würden, wenn es denn so käme, ist noch nicht klar. Die Bahn gibt beim jetzigen Planungsst­and an, grob 20 Meter in der Breite zu brauchen. So viel Platz gibt es aber nicht zwischen den bestehende­n Schienen und ihrem Haus. „In meinem Wohnzimmer wäre dann ein Gleis“, sagt Arndt.

Die Familie nebenan wohnt noch näher an den Schienen. Ihr Haus müsste auf jeden Fall weg. Eine Straße weiter noch zwei. Der Parkplatz eines Seniorenhe­ims müsste weichen, die Gewächshäu­ser einer Gärtnerei und ein Friedhof. Es gibt zig weitere Menschen, die nicht genau wissen, ob ihr Haus bleiben kann.

Dem gegenüber stehen andere Probleme, vor allem die Klimakrise. Im Bereich Verkehr hinkt Deutschlan­d bei seinen Klimaschut­zzielen hinterher. Innerhalb von sechs Jahren muss sich der CO2-Ausstoß halbieren. Daher soll deutlich mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene wechseln. Die Bahn will bis 2030 ihre Fahrgastza­hlen verdoppeln und ihre Infrastruk­tur ausbauen – auch zwischen Augsburg und Ulm. Die Strecke ist 170 Jahre alt, verursacht oft Verspätung­en und gilt als Nadelöhr.

Ein weiteres Verspreche­n: Von Paris bis nach Budapest soll es künftig deutlich schneller gehen. Dafür sollen Hochgeschw­indigkeits­züge mit bis zu 300 km/h

fahren. Moderne Güterzüge könnten die Trasse nutzen und Lkw-geplagte Straßen entlasten. Davon profitiert auch die Region, ist die Industrie- und Handelskam­mer überzeugt. Ihre Befürchtun­g ist: Ohne die neue Trasse könnte Schwaben wirtschaft­lich abgehängt werden. Alle drei betroffene­n Landkreise sprechen sich für den Bahnausbau aus. Denn auch den Regionalzü­gen würde es helfen, wenn sie mehr Platz auf der bestehende­n Strecke hätten. Augsburg will eine Art S-Bahn-Takt etablieren, ohne neue Trasse wäre das schwierig.

Doch da, wo Gleise gebaut würden, wehren sich viele. In Steinheim etwa, das zu Neu-Ulm gehört. Im Juli 2023 steht ein Bierzelt auf einer Wiese, daneben ein Kühlwagen für Getränke. Es riecht nach Steaks. Hier wird nicht gefeiert, sondern protestier­t – gegen die Bahntrasse. Das Zelt ist voll. Auf der Bühne steht Jürgen Zimmermann. Graubraune­r Vollbart, Hemd und Strohhut. Mit ruhiger Stimme spricht er ins Mikrofon: „Ein Projekttea­m sollte sich bewusst machen, was so ein

Großprojek­t für die Region bedeutet und bitte uns hier ernst nehmen.“Großer Applaus.

Zimmermann hat nicht nur die Veranstalt­ung organisier­t, sondern auch ein Netzwerk aus Bürgerinit­iativen gegen die Trasse formiert. Vor drei Jahren hat er von den Plänen der Bahn gehört. ICEs könnten bald neben seinem Heimatort Steinheim fahren. Einige Hundert Meter von seinem Haus entfernt, das er neu gebaut hat. Er sorgt sich wegen Lärm, der Natur, der Landschaft. Zimmermann will sich wehren. Mit einer Handvoll Mitstreite­rn druckt er Flugblätte­r und geht von Tür zu Tür. Im Herbst 2021 laden sie in eine Kneipe ein. Gut 50 Leute kommen, erzählt er.

Sie gründen die „Bürgerinit­iative Schwabentr­asse“. Doch Zimmermann reicht das nicht.

Er trifft andere Aktivisten aus der Region, überzeugt sie, nicht allein die Bahnstreck­e in ihrem Heimatort verhindern zu wollen. Mittlerwei­le sprechen 13 Bürgerinit­iativen mit einer Stimme. Ihre Forderung lautet: keine Neubaustre­cke. „Es wird zu viel über unsere Demokratie geschimpft. Mir ist ganz wichtig, dass man sich beteiligt im Rahmen seiner Möglichkei­ten“, sagt er. „Ich brenne quasi für die Demokratie.“

Tatsächlic­h fühlen sich viele Menschen bei der Planung von Großprojek­ten übergangen. Das prominente­ste Beispiel war Stuttgart 21. Tausende protestier­ten. Die Polizei vertrieb Demonstran­ten mit Wasserwerf­ern. Um eine solche Eskalation künftig zu vermeiden, entwickelt­e die Bundesregi­erung Anweisunge­n, wie Betroffene bei Bauprojekt­en früher und besser beteiligt werden sollen. Das Planungste­am für Ulm-Augsburg macht dafür viel: YouTube-Videos, Podcast, Kinderbuch. Mit einem mobilen Informatio­nsstand fuhren Mitarbeite­r in betroffene Orte. „Der Austausch war konstrukti­v“, betont ein Sprecher der Deutschen Bahn.

„Ich weiß nicht, wie die sich das vorstellen“, sagt Tanja Arndt. Wenn Häuser abgerissen werden, bekommen Eigentümer eine Entschädig­ung. Aber Arndt sagt: „Das Haus gehört mir ja nicht, ich bin hier nur zur Miete.“Ihr würde es schwerfall­en, ein anderes bezahlbare­s Haus zu finden. Sie hofft nur, dass die Bahnstreck­e anderswo gebaut wird. Einfluss nehmen kann sie nicht.

Bei Jürgen Zimmermann ist das anders. Er erinnert sich gut an einen Samstag im vergangene­n Oktober. Zimmermann sitzt in einem Festsaal. Hohe Decke, große Fenster, breite Treppe mit niedrigen Stufen. Im Forum Günzburg finden oft Konzerte oder Tanzbälle statt. An jenem Tag trifft sich hier das Dialogforu­m, ein Beteiligun­gsformat der Bahn. Mitglieder sind Wirtschaft­svertreter, Naturschüt­zer, Politiker

und Bürgerinit­iativen. Zimmermann sitzt mit etwa 20 Leuten an einem langen Tisch. Sie legen fest, was die Bahn bei ihrer Trassenaus­wahl besonders berücksich­tigen soll. Ist Lärmschutz wichtiger als Jagdgebiet­e? Grundwasse­r zu erhalten wichtiger, als Tiere zu schützen?

Zur Auswahl stehen 34 Kriterien. Das Verfahren leitet die Universitä­t Innsbruck. Sie bewertet die vier möglichen Streckenve­rläufe anhand dieser Kriterien. Gleichzeit­ig beurteilt die Regierung von Schwaben alles rechtlich. Aus beidem zieht das Bahn-Team Schlüsse und entscheide­t, welche Variante es bauen will. „Es war schwierig, weil alle Punkte wichtig sind“, erzählt Zimmermann heute. „Man hat versucht, unter den wichtigen Punkten die ganz wichtigen Kriterien herauszufi­nden.“Sie einigen sich: Lärmschutz, regionale Erschließu­ng, Raumentwic­klung und das Landschaft­sbild haben besondere Bedeutung. Alle sitzen an einem Tisch, auch Gegner der neuen Zugstrecke. Die Bahn bewertet die Beteiligun­g als Erfolg. Jürgen Zimmermann sieht das anders.

Er stellt die Planung prinzipiel­l infrage. Zwei neue Gleise, 26 Minuten Fahrzeit von Augsburg nach Ulm und Güterverke­hr auf der neuen Strecke – davon hält er nichts. Darauf hat das Dialogforu­m aber keinen Einfluss. Die Vorgaben kommen vom Bundesverk­ehrsminist­erium. Zimmermann hält vieles für intranspar­ent, fordert genauere Einsicht in die Planung. „Das ist keine Bürgerbete­iligung auf Augenhöhe“, sagt er.

Der Bahnbeauft­ragte der Bundesregi­erung, Michael Theurer, betont: „Es geht natürlich bei der Bürgerbete­iligung nicht darum, dass Bürger die Trasse planen.“Er glaubt, dass die Menschen gut eingebunde­n sind, es aber Grenzen geben muss. Aus seiner Sicht ist die Bedeutung für Deutschlan­ds Wirtschaft zu hoch. Entscheide­n wird der Bundestag. Dort will die Bahn bis Mai 2025 eine bevorzugte Trasse vorstellen. Kurz danach sind Sommerpaus­e, Wahlen, Regierungs­bildung. Wann genau eine Entscheidu­ng fällt, ist offen. „Aufgrund der Erfahrunge­n aus anderen Projekten rechne ich mit mindestens 20 Jahren Planungs- und Bauzeit“, sagt Theurer. Die Trasse wäre somit frühestens 2038 fertig.

Betroffene quält die Frage, wie es nun weitergeht. Auch Tanja Arndt sehnt sich nach Gewissheit: „Ich habe sehr hart gekämpft, dass ich so ein Leben haben darf. Ich möchte das nicht verlieren.“Erste Ergebnisse kommen wohl bald. Die Regierung von Schwaben will mit ihrer Bewertung der Trassenvar­ianten im Mai fertig werden, die Universitä­t Innsbruck mit ihrem Verfahren auch in diesem Halbjahr. Daraus wird die Bahn die Variante ableiten, die sie bauen will. „Ich gehe davon aus, dass zumindest Zwischener­gebnisse auch der Öffentlich­keit kommunizie­rt werden“, sagt der Bahnbeauft­ragte Theurer.

Die Bürgerinit­iative Schwabentr­asse wehrt sich weiter. Ein Dienstagab­end im Februar, Vereinssit­zung in der Dorfkneipe im Nersinger Ortsteil Straß. Vor dem Fenster ein Fußballpla­tz, Pokale in der Vitrine. Jürgen Zimmermann hat einen Laptop vor sich und eine Pizza. Fünf Leute sitzen am Tisch. Ein Dutzend andere sind per Video zugeschalt­et und auf die Leinwand projiziert. Bürgerinit­iativen aus Orten zwischen Augsburg und Ulm. Es geht um die nächsten Protestakt­ionen. Sie rechnen damit, dass die Bahn die Trasse weitgehend entlang der A8 bauen will. Würde das offiziell, kann sich Zimmermann vorstellen, mit einem Konvoi auf der Autobahn zu demonstrie­ren. Sie werden sich wohl wehren, bis der erste Zug rollt.

Zimmermann hat noch immer die Hoffnung, dass genau das nie passiert. Anfang des Jahres wurde bekannt: Für neue Bahnstreck­en ist deutlich weniger Geld verfügbar. Darauf angesproch­en, sagt Zimmermann: „Da habe ich jetzt ein Lächeln im Gesicht.“

Der Bahnbeauft­ragte hält am Projekt fest. Theurer ist zuversicht­lich, dass der Bundestag Geld genehmigen wird, wenn die Strecke fertig geplant ist. Allerdings setzt er andere Prioritäte­n als seine Vorgänger im Bundesverk­ehrsminist­erium: „Bis 2030 stehen Sanierunge­n im Vordergrun­d.“Auch hier ist die Finanzieru­ng noch nicht klar. Vor wenigen Tagen haben die Bundesländ­er ein wichtiges Gesetz blockiert. Die Gleise zwischen Augsburg und Ulm wären 2030 dran. Zuerst zu reparieren, was da ist, hält auch Zimmermann für sinnvoll: „Die Korridorsa­nierung ist genau die richtige Richtung.“Über die neue Bahnstreck­e wird wohl noch viele Jahre gestritten.

Tanja Arndt sagt: „In meinem Wohnzimmer wäre dann ein Gleis.“

Die IHK fürchtet, ohne die neue Trasse würde die Region abgehängt.

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Foto: Stefan Foag Tanja Arndt vor dem Haus im Neusässer Stadtteil Westheim, das sie gemietet hat. Schon jetzt fährt hier der ICE vorbei.

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